Amber Sadoor | Dezember 2021
Quelle: www.dertrickser.de
Ich betrat den Rand dieser Lichtung, auf der ein Mädchen sich in der Sonne drehte. Es tanzte und lief von einem Platz zum anderen, schnupperte hier an einer Blume, lief da einem Schmetterling hinterher, sang ein lautes Lied und testete seine Stimme mit unerwarteten Tönen. Es setzte seinen Fuß an jeden Punkt, der ihm gefiel. Ich stand und schaute.
Als es mich wahrnahm, kam es direkt auf mich zu. Es war wunderschön. Sofort bezog es mich in sein Spiel ein. Es sprach mich an, erzählte von den Phänomenen, die es beobachtet hatte, beschrieb den Flug des Schmetterlings von Blume zu Blume, sang ein weiteres Lied, bei dem es sich an einer Stelle unterbrach um mir eine Geschichte aus dem Leben des Liedermachers zu erzählen und an einer zweiten, um mir ihren Gesangsfehler zu erklären, wegen dem sie von vorne begann, es fragte mich nach Liedern die ich mochte, doch bevor ich antworten konnte, hatte es einen Lichtschein entdeckt, der so durch die Baumwipfel fiel, dass man darin schwebenden Staub beobachten konnte. Ich nahm wahr, dass ich es spannend fand, das Mädchen zu beobachten. Zugleich verspürte ich Irritationen, denn obwohl es mich wahrnahm und es mich ansprach und sein ganzes Tanzen, Singen, Sprechen und Wandeln nur für mich zu tun schien, kam kein Gespräch zustande. Ich stand und sah, sie sprang und sang und teilte mir ihre Geschichten und Gedanken mit.
Als ich am nächsten Tag wiederkam, wiederholte sich das Spiel. Es gab andere Tänze, andere Musik, andere Beobachtungen anderer Phänomene, doch im Grunde drehte sich das Mädchen in erster Linie um sich auf dieser Bühne, zu der wir zusammen diese Lichtung machten: sie als Performerin, ich als Zuschauer. Eine Bindung kristallisierte sich heraus zwischen uns. Wir mochten uns, das war unübersehbar, und wenn sie sich zu mir wand, berührten ihre Finger meine Hände oder sie legte sogar ihre Arme um meinen Hals. Offenbar hatten wir uns etwas zu geben. Doch mir war unklar, was es sein könnte. Ihre Tänze, Worte und Sätze glitten so schnell vorüber, dass ich sie nicht zu fassen bekam und eine Einordnung war mir bei dieser Geschwindigkeit unmöglich. Sie dagegen schien mit meiner Gegenwart mehr als zufrieden. Sie hatte einen Zuschauer und Zuhörer gewonnen, und schien auf dieser Wiese in ihrem Tun aufzublühen.
Ich spürte, dass es mir nicht reichte, nur passiver Zuschauer am Rand der lichten Bühne zu sein. Ich wollte herausfinden, wer sie war, wollte meine Zuneigung sichtbar machen und was ich beizutragen hätte, so dass die Bühne nicht nur ihre wäre, sondern vielleicht unsere, und dass ich nicht nur passiver Beobachter, sondern aktiv Mitwirkender sein könnte. Ich erlaubte mir, das Wort zu erheben. Ich münzte meine Beobachtungen in Worte, Sätze, Komplimente und Vorschläge. Jedes Wort, dass ihre Bewegungen unterstrich, ihre Gesänge lobte oder Verständnis für ihre durchaus auch traurigen Geschichten ausdrückte, ließ sie heller strahlen. Ihre Zuneigung wuchs und sie legte nicht nur ihre Arme um meinen Hals, sondern küsste mich auch und sah mich zärtlich an. Es war wundervoll.
Als ich einige Tage später wiederkam, brachte ich ein Unwohlsein mit. Ich spürte, dass ich mich in der Rolle des applaudierenden Zuschauers nicht ausreichend berücksichtigt fühlte. Ich versuchte dies mitzuteilen und fragte, welche Rolle ich für sie spielen dürfe. Sie schien die Frage nicht zu verstehen. Ich würzte meine Aussagen also mit präziseren Beobachtungen, die mir wertvoll genug schienen, das Risiko einzugehen, einen falschen Ton zu treffen. Ich sprach, um in ihre traurigen Geschichten Erhellung zu bringen oder den einen oder anderen Halm vor ihren Füßen zu schützen – und machte somit sichtbar, dass ich nicht mehr nur am Rande stehen und applaudieren, sondern teilhaben wollte, nur noch nicht wissend, in welcher Rolle und mit welchem Nutzen. Es schien keine gute Idee zu sein, denn es schob sich eine Wolke vor die Sonne und die Lichtung erschien in seltsamem Zwielicht. Sie antwortete, ich solle doch erstmal vor meiner eigenen Tür kehren und meine Worte seien verletztend. Doch sie habe da eine Idee und meinte, sie würde mit mir zum nahegelegenen Bach gehen. Die Wolke verzog sich, das Mädchen sang und tanzte und ich begab mich in die Hoffnung, demnächst den Bach kennenzulernen.
Am nächsten Tag war sie etwas geknickt, erzählte mir von einer nächtlichen Begegnung mit einem alten Geist des Waldes. Ich baute sie mit Worten auf die sagten, es sei sicher kein Problem und sie solle nur weiter ihre Fähigkeiten ausspielen. Ich mochte es, ihr beim Tanzen zuzusehen und ihrem Gesang zuzuhören. Leider gingen wir nicht zum Bach, aber ich schien meiner Rolle des aufbauenden Kummerkastens gut nachgekommen zu sein.
An den Folgetagen war der Gedanke an den Bach verflogen, sie versprach mir stattdessen den Besuch des nahen Sees, des kleinen Hügels und mit mir auf einen Baum zu klettern. Aber erst müsse sie singen und tanzen und ich könnte ihr ja beim Pflücken von Blumen helfen. Ich tat es gern. Doch mir fiel auf, dass ich in diesem Geschehen weiterhin keine Rolle spielte, die ich selbst gewählt hatte. Ich war zuschauender Beobachter, Wartender auf die versprochene Wanderung, wohlwollender Kommentator, blumenpflückender Begleiter, Mann, an dem das Mädchen sich körperliche Zuneigung holte. Ich mochte ihre Körperlichkeit, wenngleich mich in stillen Minuten irritierte, dass mein Geist keine Andockstelle fand.
Auch in den Folgetagen drehte sich die Lichtung um das schöne Mädchen, ihre Worte, ihren Gesang, ihre Tänze, die Schönheit der Blumen und die Herausforderung gutaussehender Haare und Kleider. Die Versprechen der Ortserkundung blieben uneingelöst, aber ich verstand: sie hatte so viele Ideen, dass zwangsläufig die Zeit zu kurz war, sich ihnen intensiv zu widmen. Und da die Lichtung ständig von neuen tierischen Besuchern durchflogen oder durchschritten wurde, die Sonne immer neue Perspektiven auf Pflanzen und Orte bot und die Geräusche aus dem Wald zu immer neuen Gesängen inspirierten, gab es genügend Abwechslung, in der sich das schöne Mädchen verfing.
Ich wurde unruhig. Noch immer war ich wie eingesperrt in der Rolle des applaudierenden Zuschauers. Und wenngleich die Körperlichkeit angenehm, die Darbietungen schön und die Lichtung durchflutet war, wollte ich mehr. Ich wollte mich mitteilen, wollte meine Beobachtungen zur Kenntnis geben, wollte eine eigene Rolle definieren, wollte selbst gesehen werden. Wollte wenigstens genausoviel Worte machen wie sie, schon wegen der Gerechtigkeit! Es kostete mich Kraft, das Mädchen in ihrem Spiel zu unterbrechen um mir Gehör zu verschaffen. Und wenn dann meine Beobachtungen nicht rein von Kratzern waren, änderte die Lichtung ebenso rasant ihr Gesicht wie das Mädchen seine Stimmung. Wolken zogen auf und ausgesprochene Beobachtungen kamen zurück wie Pfeile und Kanonenkugeln einer gut bewachten Festung. Die Lichtung mutierte in einen Ort, der verteidigt wurde gegen jedes Eindringen von Dingen, die nicht von der Sonne beschienen, von Gesang durchwoben oder von Tanz berührt wurde.
Melancholie umfing mich. Da war dieses Mädchen, wunderschön und lebendig. Es liebte mich, wie es mir mitteilte und in Küssen und Gesten ausdrückte. Doch sobald ich aus dem Idealbild der stillstehenden, applaudierenden und wohlwollenden Statue ausbrach und mich selbst in das Geschehen einbringen wollte, betrat ich ein hinter der schönen Oberfläche verstecktes Schlachtfeld. Ich kämpfte dort nicht an ihrer Seite, sondern wurde als Gegner wahrgenommen. Meine Worte waren dort keine Bereicherung, sondern verschossene Pfeile. Teilte ich auch diese Beobachtung mit, verwandelten sich meine Pfeile in Kanonenkugeln und jede meiner Kugeln kam doppelt so schwer zurück.
Ich glitt in ein Dilemma. Stand ich still in meiner Beobachter-Rolle war ich akzeptiert, fühlte mich jedoch täglich von mir entfremdet und tot. Machte ich mich bemerkbar und versuchte mir einen selbstbestimmten Platz auf der Lichtung und in der Beziehung zu diesem wundersamen Mädchen zu erobern, fühlte ich mich in einen ungewählten Kampf gezogen. Ich fand weder die richtigen Worte, noch angemessene Taten. Nicht ich bestimmte das Geschehen, das Geschehen bestimmte mich. Das Dilemma blieb.
Nun sind viele Jahre seit dieser Begegnung vergangen. Ich tat, was ich tun musste, um am Leben zu bleiben und mich nicht selbst zu verlieren: ich ging in Distanz. Ich besuchte allein den Bach und den Hügel und den See, und auch wenn wir damals doch irgendwann einmal gemeinsam auf einen Baum in Lichtungsnähe kletterten, blieben die tausend anderen Versprechungen uneingelöst. Sie hinterließen bei mir ein fortwährend mitschwingendes Mißtrauen gegenüber leichtfertig dahergesagten Worten. Immer wieder muss ich an das Mädchen denken, daran, was ich ihr hätte geben können und sie mir hätte geben können. Doch meine Sprache reichte nicht aus, sie zu erreichen. Ich habe viele Interpretationen, die diese Situation erklären könnten, aber sie sind wertlos ohne sie. Meine Interpretationen sind wie steinerne, unbelebte Statuen am Rand meiner eigenen Lichtung: sie stehen da, aber lebendig kann ich sie nicht machen. Mir scheint, das Lichtungsmädchen wird mir für ewig ein Rätsel bleiben. Zwar glaube ich, sie in lichten Momenten durchschaut zu haben, aber meine Beobachtungen konnte ich weder bestätigen noch entkräften. Soweit sind wir nie gekommen. Und so bleibt die Lichtung und das schöne Mädchen ein Mythos in meiner Vergangenheit, den ich nie wirklich erreichte und bei dem mein nachlassendes Gedächtnis mir den Streich spielt, dass ich zunehmend unsicher werde, was an dieser Geschichte jemals passiert ist.