Amber Sadoor | Februar 2021
Quelle: www.dertrickser.de
Er bewegt sich an den Rändern, sagt sein Therapeut. Und das kostet Energie. Energieabfall ist das Einfallstor für die Depression. Und zeichnet eine Glockenkurve in ein Diagramm, an deren rechtem Rand er eine Marke zeichnet, die für ihn steht: eine dieser Seelen, auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt. Am Rand?
Es schnürte ihren Brustkorb zu. Unbändige Sprachlosigkeit ergriff sie. Erstarrung. Während ihr Gegenüber einfach weiterredete, machten bei ihr alle Schotten dicht: Die Ohren vernahmen Modulationen, aber das Gehirn weigerte sich sie zu entschlüsseln. Die Augen liefen voll Tränen, die den Blick vernebelten. Das Herz setzte aus und beschleunigte zugleich. Kälte lief ihre Unterarme entlang und den Rücken hinauf. Ihr Atem stockte, ihr wurde schwindlig, die Knie zitterten. Die Ohnmacht wurde körperlich, sie ging in die Hocke um nicht zu fallen. Berührte den Boden mit einer Hand, ging sich stützend auf die Knie und starrte ein Loch in den Boden das bis Australien reichen würde, wäre ihr Blick ein Laserschwert. Und das alles nur wegen ein paar Worten, ausgesprochen so nebenbei, und eingebettet in eine Flut von Sprache.
"Dich in Gänze zu lieben, bedingungslos, ist schwierig."
Nachdenkende Pause.
"Weil du gefährlich bist!"
Betonende Pause. Sackenlassen.
"Weil du Abgründe in dir hast, Patricia, die du hinter festen Türen gut versteckst. Und diese Abgründe hinter diesen Türen bedingungslos mitzulieben, ist wie die Katze im Sack kaufen."
Durchatmen.
"Wer hat soviel Vertrauen? Und woher?"
Sie nannten es die Kapelle der Gefahren, durch die ein jeder gehen musste, um das Licht zu sehen. Geboren als blinde Wesen, die in ihrer Beschränktheit nur sahen, was sichtbar war, mussten wir erst lernen, das Unsichtbare wahrzunehmen. Ohne Worte, die es greifen, ist es schwer sich darüber auszutauschen, weshalb Künstler es in anderen Formen versuchten: Bilder, Musik, Rituale, Installationen, Filme. Alles Hilfsmittel, um uns etwas sichtbar zu machen, das nicht gesehen werden wollte, etwas verständlich zu machen, das nicht verstanden werden wollte, uns zu bewegen auf einem Weg, den wir nicht gehen wollten, der Stehenbleiben aber nicht erlaubte. Ein Sog, der uns in die Kapelle der Gefahren saugt, und doch rudern wir um uns nicht hineinziehen zu lassen. Doch durch sie führt der unvermeidliche Weg, wie ein Flaschenhals der Erkenntnis: du musst hindurch, oder du kommst nicht weiter.
Schmerz. Unfassbarer Schmerz. Wut! Unbändige Wut! Er stand mal wieder an der Tür zur Kapelle und heulte auf vor Wut und Schmerz. Er war getroffen von Worten und Gesten, gegen die er sich nicht wehren konnte, und die Wunden in ihm trafen, von denen er nicht wußte. Wer Schmerz spürt fragt nicht nach Zusammenhängen, er reißt sich fort von seiner Quelle und geht auf Abstand. Doch innerlichen Schmerz nimmt man mit, egal wohin man geht. In seiner Wut und seinem Schmerz war es ihm unmöglich, darüber nachzudenken. Instinktiv riß er sich los und verschwand durch den Wald auf die andere Seite. Wieder war er der Kapelle ausgewichen, wieder davongelaufen statt hineinzugehen.
Wenn die Wut verraucht, kommt die Trauer. Tränen in den Augen stand sie vor dem Spiegel und verspürte eine unendliche Traurigkeit darüber, wieder eine Chance zertrümmert zu haben. Menschen waren gefährliche Tiere. Sie verstand sie nicht. Sie konnte nicht mit ihnen, aber auch nicht ohne sie. Und dieses ewige Spiel aus Nähe und Distanz raubte ihr die Kraft. Die Erkenntnis darüber entfachte ihre Traurigkeit. Sie fühlte sich wertlos und ungeliebt. Doch langsam kamen ihre geistigen Fähigkeiten zurück, die in der Wut verloren gingen. Sie wußte, dass die Trauer der Wut folgt und dass dies Teil des Prozesses ist, dem die Psyche folgt. Sie wollte es diesmal nicht nur durchstehen, sie wollte etwas daraus mitnehmen. Der Schmerz soll nicht umsonst gewesen sein, sie wollte lernen und hinschauen, wo sie sonst den Blick abwendete. In ihrem Tagebuch nach Spuren suchend fand sie Aufzeichnungen einer alten Sitzung. Es ging darum, nicht gehört worden zu sein, nicht gesehen worden zu sein, irgendwann als Kind. Sie hatten es nicht geschafft, die Quelle der Wunde zu finden, aber ihr ging auf, dass ihr Kränkungsschmerz des Nichtgehörtwerdens nicht neu war. Urplötzlich stand ihr diese Erkenntnis vor Augen: da liegt meine Wunde! Da liegt ein Quell meines Schmerzes! In diese Wunde trifft die Kränkung! Das muss ich mir genauer ansehen.
Vor der ersten Nacht seit langem, die er durchschlafen würde, kam ihm der Gedanke: Ich muss in die Offensive kommen! Er war so lange damit beschäftigt gewesen, Schmerzendes zu bekämpfen, Eindringendes abzuwehren, Gedankenschleifen durchzukauen, dass er übersehen hatte, dass er eine seiner Karten lange nicht gespielt hatte. Der Joker, der ihm durch den Nebel der Kapelle zuzwinkerte, gab ihm die Chance, das Spiel zu drehen: indem er die Dinge vorwegnahm, statt auf sie zu reagieren, indem er eine eigene Agenda setzte, statt sich eine aufzwingen zu lassen. Er wollte selbst wieder die Führung in die Hand nehmen, in die Vorderhand und damit ins Spiel kommen. Dieser Gedanke setzte eine erneute Eskalation in Gang, sie führte zur Reinigung und zu einem der Ausgänge aus der Kapelle. Als er begann, die Spielregeln des Spiels zu setzen, statt sie zu akzeptieren, Vertrauen in jene besonderen Fähigkeiten zu fassen, die er sich hart erarbeitet hatte, und aufzuhören, der Aufmerksamkeit der Nichtaufmerksamen hinterherzulaufen, da nahm das Spiel die entscheidende Wendung. Der frühe Lohn war: Durchschlafen.