Amber Sadoor | Januar 2020
Quelle: www.dertrickser.de
Es war mal wieder Herbst in Peking.
Er sah sie im Kaufpark. Sie stand auf einer kleinen Bühne inmitten der Laufkunden, von denen manche stehen blieben, um ihr zu lauschen. Sie sang allein, nur etwas Technik bedienend. Gekleidet, als käme sie aus einem der schicken Läden, die schicke Sachen an zahlungsfreudige Kundschaft vertickten; gleich gegenüber. Ihre Stimme tat wohl, ihre Erscheinung sog ihn in ihren Bann. In stolzer Haltung strahlte sie eine Energie aus, die ironisch dem Konsumtempel huldigte, der sie für ihr 20-Minuten-Programm eingekauft hatte, andererseits Irritationen transportierte. Drei von fünf Titeln hatte er verpasst, und nun blieb auch er in ihrer warmen Predigt hängen:
Wenn wir so weitermachen,
was wir gerade tun,
wird es so weitergehen.
Es wär' nur schade drum.
Sie hatte zu einem Visionsnachmittag geladen, der in einem Lagerfeuer am nahen Flussufer enden sollte. Ein gutes Dutzend ihrer Freunde war ihrer Einladung gefolgt, saß im Wohnzimmer auf dem Boden oder den bunt gewürfelten Sesseln und Sofas, trank Tee und schrieb schweigend in die mitgebrachten Büchlein. Sie hatte 17 Fragen vorbereitet, die sie mitgenommen hatte von einem dieser Treffen im Wald. 17 Fragen, die ihre Freunde in die Vergangenheit führten und in die Zukunft, ins Hier&Jetzt und in die Phantasie. 17 Fragen, deren Antworten eine Verortung im Strom des Lebens darstellten, eine recht gute Zustandsbeschreibung des aktuellen Minds. Die 17. Frage war es, deren Antwort ihm hängenblieb. "Wenn du also den Punkt, an dem du jetzt bist, in einem Satz zusammenfassen sollst, welcher Satz wäre das?" Seine Antwort: "Weitermachen!"
Wenn wir so weitermachen,
wie wir es grade tun,
wird alles weitergehen.
Wär' es nicht schade drum?
"Der Konflikt war doch schon immer da."
Er sprach in sein Bierglas.
"Jetzt wird er langsam sichtbar."
Erregung ergriff seine Stimme.
"Greta versus Trump.
Die sind ja nur das Symbol dafür!
Das musste halt so kommen."
Er nahm einen tiefen Schluck.
"Ich frage mich nur, wie der Kipppunkt aussieht.
Weil das läuft ja alles auf eine Entscheidung zu.
Es ist ja klar, dass nicht einfach alles so bleiben kann wie es ist."
Er leerte das Glas in einem letzten Zug, stellte es auf dem Tresen ab, ergriff seine darunterhängende Jacke und stieg vom Stuhl. Auf dem Weg nach draußen wiederholte die Repetiermaschine in seinem Kopf:
Morgen ist der Film zuende
wir hängen rum heut Nacht
wir spielen top music
we need a revolution
"Ich hörte, deine Schwester ist gestorben."
Die Freunde saßen in der Küche und einem von ihnen stiegen die Tränen in die Augen.
"Mit 37."
Er wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht.
"Krebs".
Nicken.
"Niemand hat etwas gewusst. Nichtmal ihr Freund. Sie brach am Freitag plötzlich zusammen und war am Sonntag tot."
Er hatte keine Zeit gehabt, sich zu verabschieden.
"Wir wissen nichtmal, ob sie es selbst wusste."
Wenn ich so weitermache,
wie ich es grade tu,
wird etwas anders werden.
Und was unternimmst du?