Amber Sadoor | Januar 2008
Quelle: www.dertrickser.de
sein heimatplanet war einer der kategorie a: ein mond, stabile umlaufbahn, lebensfähige atmosphäre auch ohne terraforming. abseits der handelsrouten gelegen gab es nur selten kontakte nach außen. für ihn war das ein problem...
die gesellschaft seiner spezies formierte sich seit einigen zyklen neu. und er hatte das gefühl, es war nicht mehr sein planet. der assimiliationsdruck war enorm und die renegatentoleranz ging gegen null. die werkzeugkiste der milieuliquidatoren reichte von massenmedialer persuation über psi-viren bis zu ökonomischen zwangsmaßnahmen. es war ungemütlich für alle, die individualität anders interpretierten als die masse.
er spürte, wie sein widerstandsgeist rissig wurde. sein mentaltraining hatte ihn vieles überstehen lassen, doch die subkulturellen netze waren über die jahre spröde geworden und langsam spiegelte sein hirn die gesellschaftsstruktur wider. und er stand wie so viele vor ihm vor der frage: gab es sie, die nische, um er selbst zu bleiben?
manchmal glaube ich, ich sollte weggehen. neue sichten atmen. nach neuen menschen stöbern. andere dinge tun, als die bisher getanen. mich interessieren erotikmessen einfach nicht mehr. und all die aldi-weltbilder: schnell und billig zusammengestoppelt, nicht wie ein handgemachtes bücherregal sondern wie eines dieser ikea-möbel - mit lockeren schrauben stehen sie an jeder ecke dieses seltsamen kommuniversums und langweilen sich und mich zu tode. wo sind die besonderen menschen, die besondere gedanken ihr eigen nennen; selbstkompostiert und ohne scheu vor alten küchenabfällen?
es ist mühsam, diese weltbilder zum wanken zu bringen. ja, natürlich: es geht! aber bin ich nur zum wanken hier? kann das kartenhaus nicht ohne mich zerfallen? ist nicht die weite da draußen, die mich erleben will?
wer weiß: vielleicht bin ich ja doch noch immer die ratte im käfig, auch wenn die wut eine zeitlang im keller verstaubte und die gitterstäbe aus dem blickfeld gerieten. oder vielleicht sind sie gar so offen, daß ich sie deshalb nicht wahrnehme und der kühle luftzug der hereinströmt ist es, der mich hinauslockt. weiß ich, wo ich hinwill? weiß ich, was ich zurück ließe?
ich weiß es eben nicht.
auszüge aus dem gespräch mit einem klinisch diagnostizierten paranoid schizophrenen, 12. april 1990, baltimore county hospital
das erlebnis des mystischen todes katapultierte sie in welten, von denen sie nie zu träumen gewagt hatte. sie studierte philosophie, psychologie und physik. die welt der quanten war es, die ihr vor augen führte, daß das materialistische, wahrnehmungsbestimmte zeitalter ein ende haben würde. die these der quantenphysik, daß ein quant oder photon im zustand des nichtbeobachtetseins offenbar reine möglichkeit repräsentiert, die sich erst im moment der beobachtung festlegt, bot ihrem erlebnis und ihrem fühlen ein wissenschaftliches fundament. selten zuvor hatte die materie, die oberflächlichkeit, solch eine relevanz im bewußtsein der menschheit gehabt und die ideenfundierte und die idealistische welt verdrängt. sie wollte an diesem verdrängungsprozess nicht teilhaben, sie wollte ihm etwas entgegensetzen.
und was sind schon 2000 jahre?
der alte mann saß in seinem schaukelstuhl, die pfeife in der hand, ihm gegenüber die junge frau. schwer durchschaubare verwandtschaftsverhältnisse hatten sie wieder zueinander geführt.
"ich habe schon das gefühl, dass viele menschen auf der suche sind."
"wenn du nach dem sinn suchst, das ist ganz einfach: die ewige kette des lebens fortzuführen, das ist unsere aufgabe, unser sinn", tönte seine stimme durch den grauen bart.
die ersten wochen klang dies sehr logisch, aber es klang eben nach in ihrem kopf, so wie vieles in ihrem kopf nachklang. zweifel waren ihr nichts unbekanntes, sie begleiteten sie oft und zwangen sie zum denken.
leben fortführen – das ist es? ist das alles? will ich, daß wir jedes leben fortführen, so schlecht es sich auch lebt? kann es nicht auch sinn sein, unser leben zu verbessern? wer will leben, wenn es in sklaverei geschieht?
"Die Rede vom Anthropozän, für die vieles jenseits der Geologie spricht, macht deutlich, dass der Mensch nun die Naturgewalten direkt beeinflusst und ihnen nicht mehr ganz schicksalhaft ausgeliefert ist. Die Götter und all die Tricks, sie umzustimmen und zu manipulieren, haben ausgespielt, ebenso wie die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur. Die Menschen bauen sich ihre Nischen und künstlichen Welten, ihre Gebäude, Städte, Gärten und Felder, nicht mehr in der Natur, sondern sie betreiben Geoengineering im planetaren Maßstab. Das muss erst gelernt und erfahren werden und ist auch eine Erweiterung des Selbstbewussteins. In den geschichtlichen Epochen sind wir mit der Moderne und der Postmoderne sowie der Posthistorie eigentlich schon am Ende der Fortschrittsgeschichte angelangt. Die Einführung des Anthropozäns könnte auch Möglichkeiten eröffnen, uns selbst und die Geschichte der menschlichen Kultur aus neuen Perspektiven zu erschließen."
auszüge aus dem telepolitanischen archiv "zenedotos von ephesos", band 1