Amber Sadoor | Juni 2019
Quelle: www.dertrickser.de
Nicht viele Bücher führen dich an die Fundamente des Daseins. Dieses war ein solches Buch. Sie las:
"Kleine Tiere jagte man, um sich an die Waffen zu gewöhnen; doch zum Mann wurde erst, wer die Furcht kennengelernt und überwunden hatte. Mädchen wie Jungen wurden erst dann Frauen und Männer, wenn sie der Furcht ins Auge geblickt und sie bezwungen hatten, wenn sie der Angst entwachsen und somit dem Clan-Leben gewachsen waren."
Jeder kriegt, was er grade braucht: Der eine Krebs, der andere die Kündigung, die Nächste die Chance, ihrer Sackgassenbeziehung zu entkommen. Die eine darf sich verlieben, der andere muss lernen, mit sich selbst auszukommen. Leben heißt auch zu lernen, wie man lebt. Und nichts war für ewig, alles nur ein Abschnitt eines großen Ganzen.
Sie stand auf der Bühne und betrachtete ihr Werk. Mit den Augen, mit den Ohren, mit dem Stirnhirn, das die aufgepeitschte Stimmung der Menge wahrnahm. Sie nahm das Mikro an den Mund ohne den Blick von der Herde zu nehmen und holte einen Schrei aus ihrem Innern, der, sich steigernd, eine klagende Wut mit einem entfesselten Mut mischte und den überraschten Menschen wie ein Schauer in den Nacken fuhr. Eine ungehörte Urkraft füllte den Saal und die Ohren, Köpfe und Bäuche. Sekundenlang verausgabte sich ihre Lunge an ihrer Stimme und nach einem Moment gespenstischer Ruhe setzte das Schlagzeug einen stampfenden Rhythmus in den Raum, der die Übertragung vollendete und die Individuen in eine kochende Masse verwandelte, stampfend und wabernd, extatisch und wirbelnd, wütend und mutig, erkennend, befreit. An diesem Abend rollte eine Walze den Berg in die Stadt herunter, die zerschlagene Scheiben, umgeworfene Autos und Parolen an den Wänden hinterließ, und die gut zwei Dutzend Kinder zeugte, als sie sich im Zentrum in die Schlafzimmer, Balkons und Hauseingänge auflöste. Zerstörung und Zeugung so nah beeinander. Und am Anfang stand ihr Schrei.
Er erwachte, als er eine Hand unter der Bettdecke spürte, die nicht seine war. Verwirrt suchten seine jungen Augen nach Erklärungen und fanden den Mann, den er für einen Freund gehalten hatte, neben seinem Bett kniend. Seine Linke erkundete den jungen Körper, während seine Rechte in der eigenen Hose steckte. Nein, zu solch einem Abenteuer war er nicht in diese fremde Stadt eingeladen worden! Er war zu jung und zu unerfahren, um zu wissen, was zu tun sei, und ängstlich, den Älteren mit falschen Gesten wütend zu machen. Sie kannten sich ja kaum. Viele Jahre später - er hatte inzwischen gelernt, dass vor allem viele Frauen ähnliche Erfahrungen gemacht hatten, nahm er seine Tochter beiseite.
"Setz dich. Wir müssen reden."
Der Junge war schon zu seinen Freunden auf dem Spielplatz geflohen. Die Wiese roch frisch, die Sonne schien warm. Und seine Tochter setze sich neben ihn auf die Decke.
"Wir müssen reden, meine Zwölfjährige. Du wirst flügge. Wie du dich von Lisas Geburtstag zu Hanna bewegt hast fand ich gut." Von der Nachmittags-Geburtstagsparty der Einen wurde der Tag um einen Filmabend mit Übernachtung bei der Anderen verlängert. "Ich find das gut! Aber deshalb müssen wir reden. Weil irgendwann Jungs diese Bühne betreten werden und mitspielen wollen." Kunstpause. Wirken lassen. "Was weißt du über Sex?"
Wurde sie rot? Abgebrüht war sie. Und offen geredet wurde bei ihr zuhause auch. Kein Grund rot zu werden, oder?
"Männer sind im allgemeinen kräftiger als Frauen. Was manche Männer sich nehmen wollen, nehmen sie sich einfach. Und da das jedem Vater Sorgen macht, mache auch ich mir Sorgen um dich."
Sie reichte ihm eine Handvoll Weintrauben und hörte schweigend weiter zu.
"Ich will dich beschützen. Aber ich kann es nicht. Du musst lernen, dich selbst zu beschützen, wenn du unterwegs bist."
Er griff in seinem Rucksack und holte ein Täschchen heraus, das er ihr gab.
Sie öffnete ihren Reißverschluss, spähte skeptisch in das unerwartete Geschenk und holt ein Stück nach dem anderen heraus.
Eine Dose Pfefferspray.
"Kein Parfum!"
Eine Packung Kondome.
Der Vater holte eine Banane aus dem Rucksack: "Los, wir üben."
Gemeinsam fummelten sie ein Kondom aus der Packung, er hielt den fruchtigen Phallus, sie übte linkisch Überstreifen des Präsers. Und bogen sich vor Lachen.
Einen Kalender, in den sie den Rhythmus ihrer Tage eintragen konnte.
Eine Packung Taschentücher.
Ein Telefon.
Ein Kartenspiel. Er hatte es selbst gemacht. Mit roten und gelben Karten, wie im Fußball, mit Fragen, mit denen es ihr leichter fallen sollte, einem Jungen ihre Grenzen zu zeigen. Sie war beeindruckt.
"Schau: ich kann dich nicht beschützen, wenn du unterwegs bist. Aber ich kann dich mit meiner Magie ausstatten. Dies ist mein Geschenk an dich."
Er küsste sie sanft.
"Viel Spaß auf der Bühne!"
"Dunno much about life, but I know how to breathe."
Der Song spukte in ihrem Kopf wie es sonst nur die Männer taten, in die sie sich verliebte. Sie sah sich wieder auf der Wiese sitzen und das Landemanöver der Libelle beobachten. Den Reflex, das Tier zu verscheuchen, unterdrückte sie kurz, als sich das majestätische Wesen auch schon auf ihre Hand gesetzt hatte und seine Flügel in die tiefstehende Abendsonne hielt. Flugpause. Auch sie saß wegen der Sonne im Park und wurde von einem Gefühl der Dankbarkeit erfasst, dass dieses Insekt ihr solches Vertrauen schenkte. Erst kürzlich hatte ihr eine Freundin vom Besuch eines Schmetterlings erzählt, der lange Minuten auf ihrem Knie verbrachte hatte und sie an ihre verstorbene Großmutter erinnerte.
Die Libelle ließ es zu, sich mustern zu lassen. Die vier hauchzarten Flügel hatte sie auf der Menschenhaut abgelegt. Es war nicht erkennbar, ob die Räume zwischen den dünnen Streben offen waren oder mit einer wundersamen Folie überzogen waren. Warum hatten Libellenflügel diesen kurzen schwarzen Streifen nahe der Flügelspitzen? Die Symmetrie war schön, aber hatte sie einen Nutzen? Dünne gelbliche Härchen bedeckten den dicken Körper im Zentrum des Wesens, aus dem vorn seltsame Wölbungen herauswuchsen. 'Die großen Gläsernen sind wohl die Augen' dachte die Große über die Kleine. Und während die Libelle ihr rechtes Vorderbein einklappte, um es hinter den Kopf zu klemmen, beobachtete die Menschin den rhythmisch pumpenden Schwanz des Tieres. Er war blau, mit einer schwarzen Spitze. Seine Form erinnerte an die spitzen Samenhülsen der Lupine. Aber er bewegte sich. Sie atmet, dachte die Frau, während die Libelle ruhte, die Sonnenwärme in sich aufnahm und die Parkluft ein- und ausatmete. Und beide genossen das wohlige Gefühl, sich von einem wohlgesonnenen anderen Tier berühren zu lassen. Es war, als sei eine Verbindung entstanden, als sie so auf der Wiese oder Hand sitzend, gemeinsam die letzten Sonnenstrahlen des Tages ernteten. Niemandem erzählte sie von dem Kaninchen, das am selben Abend zutraulich schnuppernd im Armlängenabstand um sie kreiste und ihr in die Augen sah. Man hätte sie für verrückt gehalten.
"Langsam habe ich eine Ahnung davon, was es heißt, eine erwachsene Frau zu sein. Zu mir zu finden. Mich anzunehmen. Jetzt, wo ich vierzig bin."
Sie saßen auf der Wiese am Fluss, tranken Wein, genossen die Nachtwärme.
Der Abend sollte Wendungen nehmen, die sie nicht erwartet hatten, aber vielleicht erhofft. Ihre Lippen berührten sich. Warm. Feucht. Kurz. Ein vorsichtiges Abtasten, dem ihre Geschichten zugrunde lagen, ihre Narben, ihre Skepsis. Sie nahmen nicht wahr, wie sich die Wiese leerte. Der Mond ging auf, als sie bemerkten, dass sie die Welt für sich allein hatten. Sie waren Bühne, Spieler und Zuschauer zugleich, tänzelnd um sich selbst und ihr Gegenüber.
Es sollte der letzte gemeinsame Abend für lange Zeit sein. Seine Zeit im Knast, ihr Jobwechsel und die Restauration. Aber als sie sich wiedertrafen knüpften sie genau dort an, wo sie aufgehört hatten: an ihren Lippen.