Amber Sadoor | Juli 2019
Quelle: www.dertrickser.de
Wir Isolierten waren in Block D untergebracht. Meine Zelle war drei mal drei Meter groß und wenn ich sprang, konnte ich mit den Fingerspitzen die Decke erreichen. Während meiner Haft habe ich nie jemanden getroffen, nie jemanden gesprochen, nie jemanden angefasst und ich wurde nie berührt. In meiner Zelle stand ein Display mit einer schmalen, winzigen Tastatur, auf der ich mit nur zwei Fingern gleichzeitig tippen konnte. Eine Art Chat-Programm war mein einziger Draht nach draußen. Über ihn erhielt ich meine Aufträge, über ihn konnte ich mit anderen kommunizieren. Das Fehlen jeglicher körperlicher Reaktionen führte zu illusionären Schüben. Manche Tage wußte ich nicht, ob das, was ich las, so gemeint war, wie ich es verstand. Ich wußte nicht, ob mein Gegenüber ehrlich zu mir war oder nur ein Spiel mit mir trieb. Ja ich wußte nicht einmal, ob ich es mit echten Menschen oder Bots zu tun hatte - nichts in meiner isolierten Situation gab mir einen Weg, im direkten Kontakt zu prüfen, was ich zu verstehen glaubte oder mit wem ich in Kontakt zu sein glaubte. Die Welt war ein einziges Mißverständnis. Paranoia fraß sich in mein Hirn, und anstatt mich auf jene einzulassen, mit denen ich kommunizierte, brach ich einen Kontakt nach dem anderen ab, um mich der illusionären Trance zu entziehen. Die Wände um mich herum schienen mir realer als meine Kommunikationspartner, von denen ich nur zu Worten montierte Zeichen las und zu Sätzen verschraubte Worte. Was mich am Leben hielt waren Geschichten, die ich mir selbst schrieb. Die von Isolation verstärkten mentalen Vorgänge führten zu außergewöhnlichen Halluzinationen über mich und das Leben, die in selbstverstärkten Feedback-Loops in blühende Fantasien ausarteten. Ich bereiste Planeten, die mir so plastisch vor Augen standen, dass ich regelrecht erschreckte, wenn meine Augen die steinernden Wände um mich herum wahrnahmen. Ich verliebte mich in Wesen, die ich aus den Worten in Bilder in meinem Kopf verwandelte, wobei ich oszillierte zwischen orgiastischen Sehnsuchtsgefühlen und paranoiden Abstoßungsreaktionen. Kein menschliches Wesen war gemacht für diese Form der Isolation, doch es gab niemandem, dem ich zeigen konnte, wie es sich anfühlte. Nur durch in einen Computer gehackte Zeichen konnte ich umschreiben, wie es mir erging - und meist erging es mir schlecht. Als ich entlassen wurde, stürzte ich mich ins Körperliche meiner Mitmenschen, während ich zugleich die erlernte Distanz beibehielt. Ich war zum Krüppel mutiert, und heute, wo ich dies schreibe, werde ich meinen Körper und mich auflösen in einem Sprung vom Dach des Nachbarhauses. Etwas in mir freut sich auf die klare und eindeutige Berührung des Asphalts mit meinem Körper, auch wenn es nur eine hundertstel Sekunde spürbar sein wird und mein Ich erlöschen und erlösen wird. Wir Isolierten aus Block D haben verlernt, echten Kontakt auszuhalten.
Aus den steinernen Seitenwänden meiner Zelle hingen vier eiserne Ketten, jeweils zwei auf Kopf- und zwei auf Fußhöhe, zwei links, zwei rechts. Steckte ich die Arme durch die oberen und die Füße durch die unteren Ringe, so zogen sie mich in eine Schwebeposition inmitten des Raumes. Es schmerzte, den Körper so aufgezogen zu spüren, und war doch angenehm: mein ganzes Gewicht konnte ich in diese Apparatur legen und dadurch fühlen, dass ich ein Körper war, dass ich ich war, dass dieses Leben echt und Kontakt wirksam war. Was ich durch Kommunikation über das kleine Terminal nicht erfuhr, gaben mir vier Eisenringe. Auch wenn menschliche Stimmen nicht in meine Zelle drangen, die ruckelnde Vibration anderer Eisenketten tat es sehr wohl: dumpf rasselte es, wenn ich mit dem Ohr am Boden lag und ich nahm an, dass meine Mithäftlinge wie ich das Gefühl genossen, sich hinzugeben. Mir war bewusst, dass diese Ketten mich zerreißen konnten. Nur um ein wenig mehr musste die Kraft gesteigert werden, die mich in der Höhe hielt, und Arme wurden aus Schultern und Beine aus Hüften gerissen. Doch tat die Apparatur dies nie und mir blieb rätselhaft, wie sie berechnete, wie weit sie gehen durfte in ihrer erlösenden Folter.
Distanzen zwingen mich zum Reden. Reden zwingt mich zum Denken. Denken zwingt mich zum Grübeln. Grübeln schickt mich in die Depression. Ich hasse Distanzen. Und noch mehr die modernen Wege, ihnen scheinbar aus dem Weg zu gehen. Das Spannungsfeld zwischen kommunikativer Nähe und körperlicher Distanz produziert Zerrissenheit. Ich bin nie da, wo ich bin, sondern der Geist schwebt immer davon in eine erträumte Ferne, eine illusionierte Nähe, in ein Trugbild des Zusammenseins. Haut auf Haut empfinde ich als wahre Nähe, alles Gerede ist doch nur der Versuch, Gefühl in eine Sprache zu übertragen, die nur mit Assoziationen funktioniert, die jeder anders interpretiert. Kein Wort ist genauer als Schweigen. Ein Stapel Ungenauigkeit produziert nichts als Wirrniss in meinem Kopf. Als ich noch nicht in Isolation war, brauchte ich die körperliche Begegnung mit meinen Freunden, meinen Kindern, meinen Geliebten im Tagestakt. Ich verlor sonst ihre Spur, mein Gefühl für sie, mein Vertrauen in ihr Da-Sein. Nur Haut auf Haut empfinde ich als wahre Nähe.
"Selbstbestimmtheit erfahre ich, wenn ich darüber entscheide, wie ich meine Grenzen setze". Eine Zelle ist kein Glaspalast, Isolation keine Party. Patricks Worte galten nur für jene, die Freiheit erfuhren, nicht für die, deren Grenzen durch andere gesetzt wurden. Selber Grenzen setzen dürfen ist ein Geschenk der Freiheit. Manchmal sehnte ich mich zurück in meine 25 Kubikmeter: Ein räumlich klarer Rahmen. Die Verwinkelungen des sozialen Raumes sind klar beschnitten, und nur mein Terminal mit der Zweifingertastatur bot einen schmalen Kanal in diese andere Welt. Die Beschränkung bot mir Schutz und schickte mich zugleich in den Wahnsinn. Ob wir in einer anderen Welt jemals ein Ehemaligentreffen der Block-D-Insassen veranstalten werden?