Amber Sadoor | Oktober 2017
Quelle: www.dertrickser.de
Grenzen.
"Er geht nicht an seine Grenzen. Nichtmal ansatzweise!"
Eine Mischung aus Enttäuschung, Erkenntnis und Empörung lag in ihrer Stimme. Sie sprach von ihrem Freund, als läge die Beziehung schon hinter ihr.
"Man muss ja nicht ständig über seine Grenzen gehen. Das ist auf Dauer nicht gesund. Aber sollte man nicht hin und wieder ausloten, was noch in einem steckt? Diese Selbstzufriedenheit kotzt mich an!"
Sie trank von ihrem Anisschnaps, sah ihrer Freundin in die Augen, in denen sie wortlos Bestätigung fand.
Die löffelte ihr Hummus in diesem neuen Restaurant der zwei iranischen Brüder und erzählte scheinbar zusammenhanglos:
"Wenn es weh tut, weißt du, dass du lebst. Hat die Saunameisterin bemerkt, als sie uns mit dem dritten Eimer beim Aufguß quälte. Das hat gebrannt, sag ich dir! Ich hab die Arme eingezogen und mich eingerollt, die Fläche verringert, die die Hitze angreifen kann. Die weiß, wie man Menschen an ihre Grenzen bringt!" Sie stierte abwesend vor sich hin, offenbar die Sauna-Szene vor dem inneren Auge und den Erdbeergeruch in der Nase; vielleicht auch den tätowierten Körper der Aufgießerin.
Später sollten sie sich auf einer Couch wiederfinden, näher aneinanderrücken, die eine ihren Kopf auf die Brust der anderen legen, den Geruch genießen und die Augen schließen. Eine Grenze, die sie überschritten, andere, die sie respektierten. Jedenfalls an diesem Abend.
Wer sich immer
an die Regeln hält
lernt nie,
sie zu gestalten.
Er setzte die Schablone an die Wand, sprayte die schwarze Farbe gleichmäßig darüber, nahm die Schablone ab und bewunderte zum tausendsten Male den Satz, der dadurch an allen Ecken der Stadt erschien und sich in die Bewusstseine seiner Mitmenschen grub: Wer sich immer an die Regeln hält lernt nie, sie zu gestalten. Die Selbstzufriedenheit aufzubrechen in diesem Ort, dem er eine gewisse Hassliebe entgegenbrachte, war sein Ziel. Und dafür war er bereit, diverse Grenzen zu überschreiten. Regeln zu dehnen, zu beugen, zu brechen. Er sah sich um, suchte die nächste Fläche, die nach Markierung rief. Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, politische Propaganda. In diesen Zeiten erwischt zu werden hatte unangenehmere Folgen als noch vor drei Jahren. Doch es war ihm wichtig genug, er wollte die neuen Begrenzungen nicht akzeptieren, die die Restauration mit sich brachte. Er wollte weiter, wollte wissen, was die Welt noch zu bieten hatte als den Kleingeist der Talbewohner.
Sie verbarg ihren Autismus hinter einem schüchternen Lächeln und folgte der Mechanik der Anbahnung. Tausende Male hatte sie das erlebt, sie kannte die Grenzwerte, die Reaktionen, und konnte auch die Gesten, Mimik und Körpersprache korrekt interpretieren und kam sich dennoch seltsam vor in ihrer Rolle als kühle Kalkulatorin, die besser als viele andere vorausberechnen konnte, was wann mit wem passieren würde. Zuerst die Augen-Blicke. Interesse signalisierend. Sie kannte die Reaktion auf das von ihr aufgesetzte Lächeln, das sie dem zweiten Blick beilegte. Die meisten waren irritiert und sahen nicht mehr her, doch sie hatte sich eine Strategie zurechtgelegt, die damit begann, dass sie vor ihr Gegenüber trat und ein aufforderndes "Hallo!" in das andere Gesicht sprach. 88 Prozent der Angesprochenen antworteten ebenfalls mit einem "Hallo!", dem sie oft ihre Hand und ein "Mein Name ist Sabrina." hinterherschob. Binnen Minuten konnte sie drei der wichtigsten Kontaktschwellen überschreiten: Anschauen, Ansprechen, Plaudern. Sie war stolz auf sich und ihrer Therapeutin dankbar, denn es öffnete sich ihr seitdem eine Vielfalt von Universen, ohne dass sie sich verstellen musste. Sie wandte nur ihre Ingenieurskunst auf die Tatsache an, dass letztlich ja doch alle das Gleiche wollen: geliebt werden. Sie verachtete sich hin und wieder ein wenig für diese kalte Berechnung, mit der sie anderen Menschen begegnete: ihr Schwellwertmodell mit dem sie sich Stück für Stück in die anderen Universen grub. Aber sie hielt die Verlogenheit ihres Kulturraumes auch nur schwer aus, der dem Individuum Distanz vorgab, wo sich doch am liebsten alle aufeinanderstürzen wollten: küssend, redend, offenbarend, fickend, kollaborierend, freuend. Sie tastete sich vor wie ein plötzlich Erblindeter, der dem Verlust des Sehsinnes mit dem Training seiner anderen Sinne begegnet. Sinnlichkeit. Das war ihr jüngstes Spielfeld, gefährlicher als die Kennenlern-Schwellen. Ein noch weitgehend unbekanntes Terrain, bei dem ihr allerdings eines klar war: auch hier gab es Grenzen, individuelle und kollektive, die sie austesten, kennenlernen und weiten konnte, wenn sie sich klug anstellte. Die sie überspringen konnte. Und da sie Spaß und Befriedigung fand und feststellte, dass auch ihre Gegenüber Lust auf Mehr hatten, verschob sie langsam aber sicher diese Grenzen: ihre eigenen und die der Menschen, die sich auf sie einließen.
Sie war leicht irritiert. Er befriedigt. Es reichte ihm, ihre Lust zu spüren, dabei zu sein, sie über die Schwellen zu tragen: über die "ich küss dich auf den Mund"-Schwelle, über die "ich zieh mich vor dir aus"-Schwelle, die "ich lass mich von dir unter der Bluse streicheln"-Schwelle, die "du darfst mir zwischen die Beine fassen"-Schwelle, die "du darfst deine Zunge an meine empfindlichsten Stellen legen"-Schwelle, die "du darfst deinen Finger in mich stecken"-Schwelle, die "ich spüre deinen Orgasmus"-Schwelle: genügend Schwellen, die er herausfordernd genug fand, um ihr Überschreiten zu genießen. Und solcherlei Überschreitungen gab es mehr als genug, als sie sich trafen. Er hatte keinen Grund, die "ich steck meinen Schwanz in dich rein"-Schwelle oder die "ich komme in dir"-Schwelle auch noch zu überschreiten. Er fühlte sich weder schlecht noch unbefriedigt oder als hätte er etwas verpasst. Er hielt sich vor Augen, dass er die Frau an allen Stellen streicheln durfte, die man sich als Mann so vorstellen kann. Sie lag nackt und mit gespreizten Beinen offen vor ihm, rasiert und Einblick gebend, sich von ihm anfassen lassend, eine besondere Art von Nähe zeigend und genießend - was wollte er mehr? Da "brauchte" er keinen Orgasmus extra. All diese Schwellen überschreiten zu dürfen empfand er als ausreichend spannend und genußvoll, befriedigend genug. Und sich etwas offen zu halten, etwas übrig zu lassen, vielleicht für andere Zeiten, andere Tage, andere Momente, vielleicht auch nur für die Erinnerung - das gefiel ihm.
Grenzen zu überschreiten und sich zugleich bewusst zu begrenzen: Ein Balanceakt!
Während er den zweiten Joint des Abends rollte, breitete sie weiter ihre Philosophie vor sich aus:
"Wenn die Seelen herüberkommen tun sie das ohne Erinnerung. Denn sie suchen nach Erfahrung. Und Erfahrung kann man nur aus der Unerfahrenheit heraus machen. Erinnerung stört da nur." Sie überlegte. "Ich glaube das ist der Grund, aus dem wir hier sind: Das Leben erfahren."
Er leckte das Paper an und klebte es zusammen.
"Manche Substanzen helfen dir Dinge zu sehen, die immer da sind, die wir sonst aber nicht wahrnehmen." Sie sprach in leicht predigender Trance. "Sie machen Hindernisse transparent, die dich im Alltag davon abhalten, zu sehen. Damit du hinüberschauen kannst in die weitere, breitere Welt." Ein tiefes Atmen hob ihren Brustkorb. "Labilen Typen passiert es manchmal, dass sie nicht zurückkommen. Die Droge führt sie hinüber, und ein Stück verbleibt dort."
Sein Feuerzeug zündete den Selbstgedrehten an. Drei Züge für ihn. Vier Züge für sie.
"Aber guck dir Johnny Depp an. Der ist drübengeblieben auch ohne Drogen. Er ist auf Jack Sparrow hängengeblieben. Auf ewig in Peter Pans Jagdgründen. Die Dämonen haben ihn eingeholt. Er ist bis zum Herzstillstand gefangen in dieser Rolle." Ein tiefes Seufzen. "Was für ein Jammer!"
Er hob den Joint anbietend in die Höhe und blickte sie an. Sie beantwortete seinen Blick und schüttelte den Kopf, woraufhin er den Joint ausdrückte und in die Brusttasche seiner Lederjacke steckte. Sie standen auf, schulterten ihre Rucksäcke und traten die wenigen Schritte bis zum Kopf der alten Hängebrücke vor, von der nur noch zwei Stahlseile übrig waren, die zur anderen Seite des Tals führten. Ein kurzes Innehalten, aber kein Zögern. Zielgerichtet setzte sie den Fuß auf das untere Seil, hielt sich oben fest und begann, sich vorsichtig über den Abgrund zu wagen. Kurz überlegte er, ob das Seil sie beide halten würde und dachte dann: vielleicht hält es selbst einen Einzelnen nicht. Doch dann will ich nicht derjenige sein, der zurückbleibt. Und stieg hinterher.