Amber Sadoor, 2013 - 2015
Quelle: www.dertrickser.de
Jede Gabe ist zugleich ein Fluch. Immer wieder verfluchte er sein Gehör, wenn die Nachbarin die Waschmaschine anstellte. Das beständige, unrhythmische Gerumpel drang in sein Schlafzimmer wie ein Bohrer in seinen Zahn. Seine Nerven leiteten Geräusche in glasfaserklarer Qualität in seine Synapsen, die daraufhin nach Mustern im Sound zu suchen begannen. Das Dumme an Ohren ist: Man kann sie nicht schließen. Sein ganzes Leben lang sollte er diese Unfähigkeit seiner Gabe nächtelang mit neuen Flüchen belegen.
Was er „Arbeit“ nannte, nannten seine Altvorderen „am Computer sitzen“. Aber an Arbeit war nicht zu denken. Noch während er überlegte, ob er die Dosbox mit DukeNukem3D, Dune oder einem Tag mit dem Tentakel füllen sollte, poppte plötzlich das BOINC-Logo auf. Sein Rechner hatte ein besonderes Muster in den Daten von Seti@Home gefunden. Er war nicht von Anfang an bei Seti dabei gewesen und hatte beim Neuaufsetzen seiner Rechner jedesmal darüber nachgedacht, ob er wirklich noch dran teilnehmen wollte, obwohl er den Gedanken des verteilten Rechnens mochte. Man hörte kaum noch was von dieser Suche nach Signalen aus dem All, bei dem zu den besten Zeiten Millionen Heimcomputer weltweit die von einem Teleskop aufgezeichneten Datenpakete nach auffälligen Mustern durchsuchten. Der Mauszeiger war nur noch den letzten Klick vom Schließen entfernt, als er skeptisch zurückwich: Signal gefunden?
Der erste WOW!-Effekt lag fast 40 Jahre zurück. 6EQUJ5 war das Signal damals stark gewesen. Jetzt war es nicht nur dreimal stärker - sondern es kam rhythmisch. Seit dem Fund in seinem Wohnzimmer war die Zahl der Seti@Home-Teilnehmer explodiert und mit ihnen die Fundrate. Nahezu einmal im Monat wurden inzwischen Signale gefunden. Die Forschergemeinde war sich diesmal so einig, wie sich Forschergemeinden eben einig sein können: In einem Sonnensystem im Sternbild Schütze muss es Leben geben, das in der Lage ist, elektromagnetische Signale durchs Weltall zu senden. Den zweiten WOW!-Effekt hatte sein Rechner in seiner Bude gefunden an einem dieser Wochenenden mit Waschmaschinenkrach und ihm dafür bei Sotheby's eine ordentliche Stange Geld eingebracht. Doch was ihm irgendwie viel wichtiger war, als alles Geld der Welt: Heute kam die Urkunde. Auf ihr stand der neue Name der Sonne des Sonnenssystem, aus dem die Signale stammten: Sonorous B. Er hatte einen Stern benannt.
Es gibt nicht viele Tage in unserer Zeitrechnung, wo jeder, den du fragst, eine Antwort auf die Frage hat: Wo warst du da? Milliarden Menschen wissen, wo sie am 11. September 2001 waren. Und jeder hat eine Geschichte dieses Tages zu erzählen. Mindestens Millionen wissen, wo sie am 9. November 1989 waren. Und jeder hat eine Geschichte zu erzählen. Jeder erzählt seine Geschichte, aber alle Geschichten zusammen, sind das, was wir Geschichte nennen. An dem Tag, als dein WOW!-Signal öffentlich präsentiert wurde, war es nicht das Internet oder der Fernseher vor dem alle hingen, sondern es war das Radio. Zwei Tage vorher war der Strom in vielen Gegenden ausgefallen. Zum Glück hatte die Resilienzia in den Jahren zuvor das redundantRadio aufgebaut. So hörte jedes Kind und jede Frau und jeder Mann auf diesem Planeten über das kleine Gerät oder in den Radioräumen der Dörfer und Städte diese Töne. Jedem war klar, dass dies nicht nur Signale sind, kryptisch verpackt, wie es Ingenieure gern tun. Es war Musik. Es waren nur sieben Töne, es war nicht komplex, es war so einfach wie ein Kinderlied. Es blieb in jedem Kopf hängen. Diesen Tag hat keiner der Lebenden je vergessen.
Dass der Wiederaufstieg des Radios mit einem Stromausfall und außerirdischem Kontakt begann, klingt mehr nach Ironie als Geschichte. Und doch wird es so gewesen sein.