Amber Sadoor | Juli 2017
Quelle: www.dertrickser.de
Hungrig. Wenn wir länger ohne Berührungen waren, wurden wir hungrig. Manchmal bewegten wir uns wie Kojoten durch den Stadtdschungel, bereit über alles herzufallen, was ein Quentchen Zuneigung versprach. Wurde der Hunger zu groß, trugen wir ihn zu offensichtlich vor uns her, bissen wir nicht selten selbst uns Zugeneigte weg. Unsere Geschwindigkeiten aufeinander abzustimmen war schwierig, und nur manchmal war der Hunger schwächer als die Geduld.
Sie sagte, sie übt noch mit Menschen und es sei nichts Persönliches, wenn sie mal über Grenzen schwappt. Er solle mit ihr umgehen wie mit einem Kind, das jahrelang im Wald lebte und erst jetzt wieder herausfindet. Er nahm sie mit unter Menschen. Doch das Tageslicht, das ohne Walddach zu ihr durchbrach, schien nicht auszureichen. Das wurde ihm klar, als er ihr Tagebuch aufgeschlagen in der Küche fand und las:
Ich fühle mich wie ein blindes Huhn, das inmitten einer lichtlosen Apparatur sitzt, und mit dem Finger immer mal hierhin piekst oder dorthin piekst um herauszufinden, was das für eine lichtlose Apparatur ist, in dem es sitzt.
Er nahm einen Stift und schrieb darunter:
Mit jedem den ich treffe verhandle ich Balancen zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Führen und Folgen, zwischen Nähe und Distanz, zwischen Rolle und ich, zwischen glauben und wissen.
Und ging zurück vor das Haus. Sie würde es nie lesen.
Die Gaukler tanzen auf den Straßen, jedes Stückchen Bürgersteig als Bühne benutzend. Feuerspucker, Jongleure, Einradfahrer. Pantomime, Puppenspieler, Poesie. Die Stadt ist voller Narren, dachte er, offensichtlichen und naiven. Die einen geben den Spiegel und werden von den anderen ausgelacht und es liegt dieses unausgesprochene Wissen in der Luft, dass jedes Lachen auch ein Rollentausch ist: Spieglein, Spieglein in der Stadt, wer ist der größere Narr im Land? Er lief umher, doch fand sie nicht. Man konnte sich im Stadtdschungel mindestens so gut verlaufen wie im Wald. War sie zurückgegangen? War sie abgehauen?
Es ist Illusion zu glauben, man könne die Bühne verlassen. Auf Lebenszeit ist das unmöglich. Das höchste der Gefühle ist, die Bühne zu wechseln. Den Ort. Die Zeit. Das Stück. Das Publikum. Mancher bespielt lieber kleine Bühnen. Überschaubare. Andere lieben den großen Auftritt, wenngleich Rampenlicht im Verdacht steht, schwer heilbaren Größenwahn auszulösen. Mancher ist mehr Marionette als selbstbesetzte Rolle, weil soviele Strippen an ihm ziehen. Ohne uns, die wir am liebsten hinter der Bühne arbeiten, wäre so manche Performance nur lauwarme Luft. Wir schneidern Masken und töpfern Kostüme. Wir schreiben Texte und formen Geschichten. Manipulieren Gefühle mit Klang und Geruch, und zielen einzig und vor allem auf die Reaktion des Auditoriums - in welches wir uns nach getaner Arbeit mischen. Man kann die Bühne nicht verlassen. Man kann sie wechseln. the show must go on.
Eigentlich musste das ja alles so kommen. Er stand am Rand der Bühne, sah vor sich die Menge tanzen, spürte den Bass im Brustkorb und vergewisserte sich, wo er war: Am Rand der Bühne, vor sich die Menge, der Bass im Brustkorb. Er breitete die Arme aus und schloss die Augen. Sich in die Arme von Unbekannten fallen zu lassen war nicht seine Stärke. Aber er hatte keine Wahl. Ein Punkkonzert ist wie das Leben: Es folgte eigenen Regeln, brachte dich hierhin und dorthin und immer in Kontakt mit den anderen. Er erlaubte seinen Füßen, die Balance aufzugeben und spürte, wie sein Körper sich neigte. Er blieb steif wie ein Brett. "Was habe ich schon zu verlieren?" dachte er und spürte im selben Moment Hände an seinem Körper: An den Schultern, den Knien, am Bauch, knapp neben dem Schwanz. Jemand fuhr ihm durchs Haar, als er spürte, wie er von Hand zu Hand gegeben wurde. "Wir sind so leicht, dass wir fliegen." Wie ein Meer aus Händen wogte es unter ihm und er schwamm auf den Händen der Herde. So also ist das, wenn man sich fallen läßt und trotzdem aufgefangen wird.