Amber Sadoor | Dezember 2019
Quelle: www.dertrickser.de
Die aufbegehrende Wut schlug sich in seiner Stimmlage nieder. Gepresst drückte er ihr ins Ohr: "Aber wenn Kunst alles darf, warum darf sie dann manche Fragen nicht stellen?" Sein Atem beschleunigte sich. "Man kann nicht nicht kommunizieren! Wenn ihr mir verbietet, mit ihnen zu kommunizieren, wie soll ich dann mit den Ejectanten umgehen? Ihr ruft nach Schweigen. Und diese Widersprüche sind für mich nur schwer aushaltbar." Er sog scharf die Luft ein. Seine Kehle dröhnte, der Luftstrom pfiff. "Ich dachte immer, Leute zum Schweigen bringen, das machen nur jene, die auf der anderen Seite stehen. Ich versteh euch nicht mehr. Ich kann nicht nachvollziehen, wie Ignoranz unsere Probleme löst. Ich muss reden, auch wenn ich schweigen muss."
Es war nicht leicht, einen Chirurgen zu finden. Eingriffe dieser Art nahmen zwar zu, aber es war wie am Anfang der Tattoos: wer sie trug, trug das Stigma des Asozialen. Es dauerte Jahre, bis der Körperschmuck sein Image gewandelt hatte und Nichttätowierte zur Minderheit wurden. Operationen unter der Oberfläche haftete der Ruf der Dolorophilen an. Doch dieser Chirurg hatte einen eigenen Fetisch: Er sammelte jene Körperteile, die er seinen Probanden aus dem Körper schnitt. Und so lautete der Deal: 50.000 Dollar und 3 Gramm Fleisch. Die Züchtung des Ersatzgewebes hatte fast 2 Jahre in Anspruch genommen. Die Tissue-Ingenieure hatten neue Stimmlippen gezüchtet, denen an der Oberfläche eine Nanoschicht Metall implantiert war. Der Ersatz seiner Stimmlippen durch die Züchtung wandelte seine Stimme: Sie bekam einen metallenen Klang. Er lernte ihn zu modulieren und wurde der erste seiner Art, der in der Carnegy-Hall sang. Der Chirurg soff sich an seinen Honoraren zu Tode und erlebte es nicht mehr, als die Abstoßungsreaktionen des Organs einsetzten. Die Hälfte seines Lebens verbrachte er stumm, denn er fand keinen Chirurgen, der das Risiko der härter werdenden Strafen auf sich nehmen wollte.
"So lange wir miteinander reden, bringen wir uns nicht um." Ein Satz in einer Zeitung. Eine Drohung. Eine Hoffnung. Keine Worte zu finden, das kannte jede. Es passiert in Ehen, wenn sich die Partner in Deadlocks eingegraben hatten. Es passiert in Schockmomenten, wo einem der Mund offen steht aber die Zunge die Chance übersieht. Wenn einem die Worte fehlen. Es begleitet die Trauer, wo alles Gesagte zum sinnlosen Geschwätz mutiert. "So lange wir miteinander reden, bringen wir uns nicht um." Schweigen kann das sein, was man die Ruhe vor dem Sturm nennt. Eine Pause, nach der aus Wortlosigkeit Gewalt wird. Und jene, die es kommen sehen, gehen beten und sprechen zu sich selbst und einem unsichtbaren Dritten.
Wie der Winter Einzug hielt, änderten sich seine körperlichen und mentalen Prozesse. Das Sommergesicht wandelte sich: es wurde blass, faltig und grau, die Gräben tiefer, die Sorgen sichtbarer. Der Hunger nach Wärme und Licht drückte sich in Form sehnsüchtig-misstrauischer Blicke aus. Den Winter zu überleben war ein Kunststück und nicht jedem gelang es. Die Frau an seiner Seite war erschrocken: Die Gestalt neben ihr war so anders als sie sie im Sommer kennengelernt hatte. Er verbarg seine Haut, die er im Sommer großflächig der Sonne darbot, er verblasste und ergraute, er ermüdete und zog sich in sich zurück. Sie verstand, dass dieses neue, zweite Gesicht jenem dunklen Kern entsprang, der ihn genauso ausmachte, wie der Kern des sommerverliebten Narrs. Schwer erträglich war die Maulfaulheit, die in ihn einzog. Der Rückzug in sein Innerstes schrumpfte seine Sprechfertigkeit gegen Null. Winter war Schweigen.
Warum bei mir so oft Musik läuft hat auch damit zu tun, dass ich die Stille nicht ertrage. Ist es still in meinen Ohren finden die Gedanken Raum und kommen aus ihren Ecken gekrochen. Und die Stille im Außen wird gefüllt mit einer Kakophonie an Stimmen, die über den Wahnsinn der Welt trauern, über den Unsinn des Daseins jammern, über den Irrsinn dessen wüten, der auf diesem Planeten passiert. Der passiert, weil wir hier sind: Menschen. In den Momenten ohne Musik bekommt jene Songzeile ihre Bühne inmitten meines Synapsensalats: "Die Welt ist ein Irrenhaus, und hier ist die Zentrale." Musik hilft mir, den Wahnsinn zu verdrängen und mich mit den klugen Gedanken kluger Musiker und ihren wohlwollenden Klängen ablenken zu lassen.