Amber Sadoor | Mai 2017
Quelle: www.dertrickser.de
Jeder Mensch ist ein eigener Kosmos. Unsere jämmerlichen Versuche, mit den Realitäten der anderen in Verbindung zu treten, brachten uns an den Rand des Wahnsinns. Doch die tumbe Masse schlug den leichten Weg ein, statt den der Wahrheit und so kam es, dass wir wie von einer Epidemie ergriffen dem Wahn anheim fielen und glaubten, wir sähen alle das Gleiche. Die Unangepassten waren die einzigen Überlebenden dieser Seuche, doch sie wurden als verrückt verstoßen vom Kollektiv der Einheitswahrnehmung.
Ihr Verhältnis zu ihrer eigenen Spezies war seit jeher zwiespältig: Sie hatte selten das Gefühl, dazuzugehören. Und doch beruhigte sie es, Menschen um sich zu wissen. Oft empfand sie eine seltsame Ruhe, wenn sie einfach nur inmitten anderer sitzen, schauen und ihren Gedanken nachhängen konnte. Wie wichtig ihr das war wurde ihr vor allem dann deutlich, wenn sie allein in ihrer Wohnung saß, die Kinder beim Vater waren und kein menschlicher Laut Nähe versprach. Waren die Kinder anwesend, reichte es ihr oft schon, sie beim Spielen im Nachbarraum zu hören. Sie war gern unter Menschen.
"Ich habe Schwierigkeiten, mich verständlich zu machen." Er saß, die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet, mit leicht gesenktem Kopf und sah sie mit fragendem Blick von unten an. Seine Sprache war sehr präzise. "Es liegt nicht daran, dass ich seltsam spreche", fuhr er fort. "Es scheint vielmehr so, als wäre die Welt, in der ich mich befinde eine andere, als die in der du dich befindest. Und ich schaffe es immer seltener, die Brücke zu bauen." Er sah ihr in die Augen. Der Blick fragte: verstehst du? Nein, sie verstand nicht. "Ich kann diese Welt nicht mehr richtig einschätzen." Er hob den Kopf. "Ich fühle, dass ich Menschen nahe bin. Aber es gelingt mir nicht, diese Nähe tatsächlich herzustellen. Es scheint, als springen alle wieder weg, sobald sie mir nahe gekommen sind." Sein Blick ging in die Ferne. "Es irritiert mich. IHR irritiert mich!" Er sah sie an, als käme sie von einem anderen Stern.
Der Therapeut war sichtlich irritiert. "Was ist los?" Sie trafen sich in der Küche der Gemeinschaftspraxis, offenbar sah seine Kollegin ihm seine Unruhe an. Er suchte nach Worten. Brauchte Zeit dafür. "Ich komme mit dem Typen nicht klar, der grade bei mir war. Er ist echt seltsam." Während die Synapsen nach Worten suchten, suchten die Lippen den Kaffee. "Er ist ist ein heller Kopf. Aber ich komme nicht an ihn ran. Und gerade...", er nahm einen Schluck, "... gerade frage ich mich, wer hier eigentlich wen therapiert." Seine Kollegin zog die Augenbraue hoch und sah ihn schräg an. Leichter Spott lag in ihrem Lächeln. "Ich kann dir das nicht erklären, du musst den Typen mal gesehen haben." Ihre Antwort war "Na dann los."
Wir standen in der Nacht, hielten unsere Räder und betrachteten die Verwirrungen, in die wir geworfen waren. "Schau dir an, wie weit du schon gekommen bist", sagte sie. Und ich gab zu, ich hatte es weit gebracht. Nicht nur, dass ich noch am Leben war, ich hatte mich auch tief ins System gehackt, bin der Quelle näher gekommen wie nie zuvor, hatte das Terrain kartiert und begonnen, mit gezielten Schwingungen kleinste Resonanzen zu entfachen. "Du hast recht", antwortete ich. "Es ist nur so furchtbar anstrengend. Es saugt mich aus. Ich habe keinen Halt." Sie küsste mich auf die Wange, legte ihr bezaubernstes Lächeln auf und begann ihr Rad anzuschließen. Sie hielt mir ihren Wohnungsschlüssel vor die Nase. "Komm, ich hab etwas Halt übrig."
Die Rolle des Zufalls ist amüsant bis sonderbar. Es gibt Milliarden potenzieller Geschlechtspartner für jeden von uns, und dennoch binden wir uns an den einen, der zufällig unseren Weg kreuzt. Man könnte sagen: Mangels Alternativen bleiben wir in einem bestimmten Moment aneinander kleben. Dabei hätte es genauso gut der nächste Mensch am nächsten Tag sein können, der unseren Hormonhaushalt damit durcheinanderwirbelt, dass auch er auf der Suche nach einem Lebensbegleiter ist, grade Zeit zum Zuhören hat und in uns Schwingungen anregt, die auch andere hätten anregen können. Nichts scheint beliebiger als das Paarungsverhalten moderner Stadtbewohner.