Amber Sadoor | Juni 2017
Quelle: www.dertrickser.de
Der Gedanke hatte sich festgebissen: Etwas Neues begann. Unklar, worin es bestand, und skeptisch gegenüber den eigenen Wahrnehmungen, traute er ihm nicht. Gedanken sind so flüchtig.
Die Isolation Berlin sang ihre traurigen Lieder und er sagte, er wünsche sich eine Quantenphysikerin mit Psychologie-Diplom als Partnerin, aber unter den gegebenen Umständen gäbe er sich auch mit weniger zufrieden. Gregor merkte an, "jetzt bleibst du erstmal eine Weile alleine, anstatt dich gleich in die nächste Frau zu werfen" und er wußte, dass Gregor recht hatte. Als Markus sich später in diese Beziehung bei sich auf dem Dorf drängelte, konnte er seine Wut nur schwer zurückhalten und verfluchte Hormone, Menschen und Dummheit. In.Divi.Duum läßt sich übersetzen in "das Un-Teilbare" sagte Markus bei einem ihrer gemeinsamen Konzertbesuche und er erweiterte die Übersetzung in das "Un-Teilbar Dumme". Und wo manche einen zweiten Frühling sahen, sah er überall Dramen in drei Akten, die demselben Programm folgten und wünschte sich ein paar mehr kreative Regisseure am Werke.
"Polyamorie ist der neue Pokemon-Go-Hype." In ihren Augen glänzte das Lagerfeuer. "Ich steh da gar nicht drauf, aber ich mach trotzdem mit. Alle um mich rum sind neuerdings polyamor. Ich weiß nicht so genau, was ich davon halten soll. Aber was soll ich machen?" Er schwieg. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. Die Rothaarige saß am Feuer und setzte mal wieder die Flasche an. Wenn er sich jetzt entscheiden müßte, er wüßte nicht, für wen. Lieber würde er sich schweigend umdrehen und schauen, wohin die Füße ihn trugen.
Sie sah diesen kleinen Jungen auf dem Fußweg entlanglaufen. Aus der Kellerperspektive schien er größer, als er war. Und während der Werkenlehrer vorne brabbelte, dachte sie: Was für ein komischer Typ! Ein Snob! Mit Aktenkoffer. Ich hoffe, ich hab nie mit solchen Freaks zu tun! Zwei Jahre später traf sie ihn wieder, als sie die Schule wechselte und in seine Klasse kam. Sie merkte, er war anders, als all die anderen und er wollte anders sein. Sein Aktenkoffer war eine Mode wie Pokemon, die er nach zwei Jahren auch wieder abgelegt hatte. Sie wurden Freunde und sie lernte, dass der erste Eindruck nicht immer der Richtige ist.
"Ich dachte immer, du bist so ein Snob. Wie du damals diesen Vortrag abgerissen hast, so professionell und im Anzug..." Er sah sie schräg an: "Ich hab gar keinen Anzug!" "... naja, dann im Hemd oder so, so geleckt, so glatt. Ich wußte echt nicht, was ich von dir halten soll. Und dann hab ich immer mal deinen Namen gehört: Frag doch mal den Dings dazu oder hierzu. Ich hab dir auch manchmal Leute vorbeigeschickt, hast du das mitgekriegt? Aber ich wußte nie so recht, was ich von diesem Phantom halten soll. Und jetzt hocken wir hier und es ist so locker und ich freu mich so darüber." "In der Stille liegt die Macht" kam ihm in den Sinn. Und er schwieg.
Der Mann mit Glatze stieg im Nachbardorf in den Bus zu. Weil der Busfahrer mit seinem Fahrkartenautomaten nicht klar kam, lud sie den Glatzköpfigen auf ihre Familientageskarte ein. "Da ist noch Platz drauf" bemerkte sie und der Fahrer brummte zustimmend, froh darüber, sein Computerproblem auf diese Weise gelöst zu haben. "Warum steigen Sie hier zu?" frage sie den Mann, der sein Gepäck auf den Nachbarsitz packte und drei Euro für die Kinder aus der Brieftasche kramte. "Ich habe meinen Vater besucht. Er ist hier im Altenheim." Sein Vater war vor 25 Jahren ihr Deutschlehrer gewesen, doch ihr Verhältnis war gebrochen, als das System brach. Erinnerungen wurden wach. Von ihm hatte sie für ein paar Jahre einen Spitznamen bekommen, weil er ihren Schreibstil mit Emily Dickinson verglich. Sowas verbindet. "Wie geht es ihm?" Der alte Mann schluckte, nach Worten suchend. "Er ist immer noch ein sehr freundlicher Mensch." Pause. "Aber er hat eben leider den Verstand verloren." Den Rest der Fahrt hingen sie schweigend ihren Gedanken nach.
Etwas Neues begann. Den Depressionen entronnen, sortierte sie ihr Dasein neu, justierte Bindungen, brach manche ab, formulierte No-Go-Areas und markierte ihr Terrain, probierte Drogen und Menschen, testete Grenzen und flirtete mit dem Wahnsinn. Sie sammelte Musik für den Herbst, wohl wissend, dass Einsamkeit hart und Bindungen flüchtig sind und rief sich vor Augen, dass Leben nur passierte, weil der Tod zufällig noch nicht vorbeigekommen war.