Amber Sadoor | Mai Zweitausendfünf
Quelle: www.dertrickser.de
"ach, das macht doch alles keinen sinn!" wann hatten sie eigentlich aufgehört, nach dem sinn zu fragen? hatten sie überhaupt aufgehört, diese frage zu stellen? oder war ihnen nur zwischendurch die zeit dafür ausgegangen? sie waren noch zu benommen, um diese frage abschließend und zu jedermensch zufriedenheit klären zu können.
"das macht doch alles keinen sinn!" plötzlich war dieser satz überall. gesprayt an häuserwände. geklebt an laternen und latrinen. gepinselt auf straßenkreuzungen. gekratzt in schultische. verbraten im fernsehen. zerdacht in gehirnen. verewigt in der menschheit. "so macht das doch alles keinen sinn!" es waren nicht wenige, die nach alten maßstäben in die anstalt gemusst hätten. sie schlugen die hände über dem kopf zusammen, und jammerten und jammerten und versuchten auf oft jämmerliche weise die ent-wicklung wegzuquatschen: alles, woran sie geglaubt hatten, stand auf einmal in frage. das bild über die welt, wie es sich in ihrem kopf bequem gemacht hatte, war in auflösung begriffen. wie ein ölbild, welches in eine wanne voller lösungsmittel getaucht wird, zerliefen die farben. und ein neues bild entstand. aber bis sie sich an dieses gewöhnt hatten, hätten viele - wirklich viele! - nach alten maßstäben in die anstalt gemusst. (nur war dafür plötzlich keine zeit mehr da.)
das evolution radio summte leise ein neues society-conspiracy-mixtape: "... der schlafende muß erwachen... es wird zeit dass du verstehst, dass du am rad der zeit drehst..."
"darf ich dir zwei fragen stellen?" er war ausgesprochen hübsch! seine augen sahen selbstbewusst klar und auffordernd in ihre. "klar. was willst du wissen?" der interesseinduzierte endorphinausstoß ließ sie den kecken blick aufsetzen, der "en garde" signalisierte. "woran glaubst du? und wohin gehst du?" freudige überraschung stand ihr in den augen, nachdem die worte angekommen waren. sie stand auf, ohne seine augen aus den augen zu lassen und griff sich seine rechte hand. ihr kopf deutete kurz in welche richtung es gehen solle. "zeig' ich dir!"
sie hatte ihr ganzes leben im büro verbracht. plötzlich sollte das vorbei sein? was sollte sie denn jetzt tun? konnte sie denn irgendetwas anderes als papier sortieren? was um himmels willen sollte sie mit der vielen zeit anfangen, die plötzlich vor ihr lag? unvermittelt fiel ihr auf, dass sie nur noch 30 sonnenumrundungen vom durchschnittlich prognostizierten todesalter für frauen entfernt war. was hatte sie die ganze zeit eigentlich getrieben? ob sie darüber nachdenken sollte? denken, denken! dieses ständige nachdenken ließ sie die hände über dem kopf zusammenschlagen, wie lange nur muß sie das noch ertragen? alles kreiste immer wieder um diese frage: was nur könne sie künftig tun, wo sie doch schon zeit ihres lebens papier sortiert hatte?
"so macht das alles keinen sinn!"
die reaktion klang ein wenig gereizt: "ihr seid immer nur dagegen, macht doch mal bessere vorschläge! wenn es dir nicht gefällt, dein ganzes leben in schul- und arbeitsanstalten zu verbringen, gören in die welt zu setzen, die das nervende abbild ihrer gestreßten eltern werden - also dein abbild! - und denen dann noch dasselbe anstalts-schicksal droht; wenn dir das alles nicht gefällt, mach einfach mal bessere vorschläge! so lange du nicht endlich rausgefunden hast, was du wirklich willst, halts maul und laß mich bitte in ruhe!" wenigstens unter freunden konnte man noch offen reden.
seitdem sie sich nicht mehr dagegen wehrte sondern es einfach fließen liess, war das mit dem gedankenlesen ganz einfach. in jeden club kam sie rein, weil sie den türstehern sagte, was diese hören wollten. sie wusste, was ihr goldfisch brauchte, sie hatte nur noch freundliche menschen um sich, sie glaubte an ufos und daran, dass der planet lebte. sie ahnte, was es mit gott auf sich hatte und hatte dem neuen papst ihr altes blutbeschmiertes holzkreuz mit ein paar netten worten zurückgeschickt. die draufgenagelte menschengestalt hatte sie vorher abmontiert und den flammen übergeben. sie hatte ihren mann verlassen, ihren kindern die meinung gesagt, ihren ersten joint und ihren zweiten blowjob probiert. und insgeheim wusste sie: zeit für die anstalt!
irgendwas ging vor auf diesem planeten. aber jetzt hatte er lange genug darüber nachgedacht. in letzter zeit war es ihm unheimlich geworden. so richtig unheimlich.
"irgendjemand muß es wegmachen" - der alte witz schoß ihm zugleich mit der kugel durch den kopf, nachdem er sich den lauf in den mund geschoben und den finger gekrümmt hatte. sein grabstein trug die aufschrift: "er war alt genug um zu wissen, was er tut." seine freunde fragten sich bei der feuchten beerdigung, ob er mit einigem abstand ebenso herzlich darüber lachen konnte, wie sie.
"welchen sinn macht es denn?" er legte den naiven blick auf und stellte sich dumm. "wie, welchen sinn macht es denn?" das blonde hühnchen wusste nicht genau, ob das ein witz war und sie gackern sollte oder ob er das wirklich ernst meinte. schließlich schaute er so drein, dass er tatsächlich glaubte, was er da sagte. er ging auf ihre rückfrage gar nicht erst ein, sondern sah sie weiterhin stumm mit einem erwartungsvoll und fragend-lächelndem blick an. mist, jetzt war sie in zugzwang. nur nix dummes sagen! also nochmal: was wollte er wissen? welchen sinn es macht, sich einen job zu suchen, zu heiraten und kinder in die welt zu setzen!? "na das muß halt so sein." er schien kurz über ihre antwort nachzudenken. und fragte erneut: "wer sagt, dass das so sein muß?" ihr kopf geriet ins trudeln. das viele denken war sie nicht gewohnt. mit den meisten männchen war das viel einfacher, der hier war entweder dämlich oder raffiniert. sie würde es herausfinden! ja! sie würde ihn mit seinen eigenen waffen schlagen. naiv war sie schließlich auch alleine! sie sah ihm in die augen, baute sich vor ihm auf und fragte: "sag mal: was willst du eigentlich von mir?"
er war mindestens so ein guter beobachter wie james cole. und er hätte schwören können, die zeilen des briefes hatten sich geändert. er war sich sicher, der verfasser hatte ursprünglich geschrieben, wie ihm bewusst geworden war, dass es in diesem leben "noch mehr als arbeiten" geben müsse. aber diese worte ließen sich einfach nicht mehr finden. schon seltsam, was in letzter zeit so passierte! selbst briefe änderten inhalt und bedeutung einfach so von heute auf morgen. wie war das möglich?
niemand hatte ihr gesagt, dass so etwas überhaupt möglich war. metamorphose? das gabs in der geologie und in der biologie. aber der mensch war doch kein tier, oder? metamorphose!
sie spürte, dass es angefangen hatte. sie hatte keine ahnung, was aus ihr werden würde - ob ihr wohl flügel wachsen würden? ob sich der himmel auftun und die zeit stehenbleiben würde? ob sich orangen- wieder zu pfirsichhaut wandeln würde?
es fühlte sich an, als würde sie völlig unerforschtes land betreten, nur persönlicher. es war, als würde sie als erster mensch die rückseite des mondes sehen - aber ohne taucheranzug. metamorphose. sie schüttelte innerlich den kopf, drehte sich wieder zurecht und schlief weiter. den rest der nacht träumte sie von fraktalen apfelmännchen, von ihrer schwester, die ständig neue regeln aufstellen wollte und von einem sprechenden stein, der bis zum kopfschmerz wiederholte: "der sinn ist, wie man ihn sich macht."
"der sinn, der sinn" - der mann, der bis vor kurzem noch von allen mit "professor" angesprochen wurde, fuhr sich durchs wirre haar. er verstand die welt nicht mehr. sein lehrstuhl war abgewickelt worden. sein wissen war nicht mehr gefragt. wie ein teenager sollte er jetzt wieder von vorn anfangen mit lernen. philosophieren stand plötzlich hoch im kurs und alle welt wollte von ihm wissen, was nochmal der sinn des ganzen sei. ausgerechnet von ihm! "keine ahnung!" schrie er den umstehenden ins gesicht. "keine aaaahnung!! ich weiß nur, was sowieso überall steht: sooo macht das ja nun wirklich kaum noch sinn!"
die sonne lachte, wärmte die haut und lockte die pflanzen. vögel waren zwar nicht zu sehen, aber ihr gezwitscher war der passende soundtrack. das gras roch frisch nach frühling. sie lagen im kreis auf der wiese in der kuschligen sonne, jeder den kopf auf dem bauch des nächsten. sie beobachteten, was um sie herum geschah, suchten die vögel in den bäumen, gaben den wölkchen wortlos namen oder dachten einfach mal an gar nichts. sehr schnell hatten sie gelernt, dass es angenehmer war, wenn man nicht immer darauf achten musste, was man grade so plapperte. man schwieg deshalb. wie es tarantino schon in pulp fiction betont hatte: man weiß immer, wenn man jemand ganz besonderen gefunden hat, wenn man einfach mal für eine weile zusammen die klappe halten kann.
was war passiert? seit tagen versuchte er, dahinterzukommen. er fühlte sich freier als früher. ("woran glaubst du? und wofür lebst du?") er warf seine uhr in den mülleimer. seit die preise eingebrochen waren, lohnte es sich nichtmal mehr, die dinger bei ebay zu verscherbeln. ich bin ein individuum, blubberte ihm ein gedanke durch den kopf. ein individuum! ICH! und trotzdem teil des schwarms...
er kontrollierte, ob er den schlüssel bei sich trug und zog die tür hinter sich zu. die vorfreude auf seinesgleichen ließen seine augen strahlen. nie mehr allein! alles andere war ihm jetzt egal. es zählten nur noch für immer die menschen...