dertrickser

Reise, Reise

Amber Sadoor | August 2019
Quelle: www.dertrickser.de

 

Als zum Ende des Tages die Sonne doch noch durch die Wolkendecke brach saß der Mönch an der Spitze des Hügels unter einer einsamen Birke, deren Wurzeln sich zu beiden Hügelseiten auf der Suche nach anderen unter der Grasnabe netzartig ausbreiteten. Wie die Sonne sein Gesicht erwärmte, erwachte etwas in ihm. Sein Hals streckte den Kopf, so dass die Sonnenernte optimal vonstatten ging. Hinter den geschlossenen Lidern entstanden rotgelbe Muster, gegliedert in zarte Facetten. Die Mutation begann. Der Sonnenwind und seine Photonen lösten die menschlichen Moleküle voneinander. Seine Haut löste sich auf, und beginnend mit dem Kopf entfaltete sich ein Sonnensegel aus Molekülen. Aufgelöst in gleißendem Sonnenlicht und aufgebläht im Sonnenwind wogte eine Membran aus dem Körper des Wesens, die sich der wärmenden Liebkosung öffnete. Wie ein Kinderdrachen im Wind, wie das Segel eines Bootes, wie eine Hängematte durch den darinliegenden Körper entfaltet und dargeboten spielte die Sonne darin wie eine Mutter ihrem schlafenen Kind im Haar krault. Ein tiefes Seufzen entfuhr dem Körper, als er sich dem Wohlwollen des Sterns hingab. Dem schwindenden Rest an Menschenbewusstsein wurde klar, dass die nährende Sonne Quelle seines Seins war und dass es der Energie des Gestirns ein Leichtes war, das Wesen einfach auszublasen. Eines Tages würde es genau das auch tun.
Mit entfaltetem Sonnensegel schritt die Metamorphose voran. Was zuvor als Muster hinter den Lidern bloße Wahrnehmung war, materialisierte sich: Dem Rumpf dessen, was soeben noch ein Mönch gewesen war, entwuchsen zarteste Knospen, die gefüttert vom gleißenden Strom schnell zu Flügeln heranwuchsen, gleich denen einer Libelle. Während die Beine des Mönchs, die im Schatten an den Wurzeln der Birke lagen, menschlich blieben, transformierte der sonnenbeschienene Teil zum Insekt. Gleich den tausenden und abertausenden Grillen und Heuschrecken der umliegenden Wiese erwuchs ein solarphiles Wesen auf dem Hügelgipfel. Es legte seine Schwingen in die Abendsonne, bereit, sich jederzeit vom Fluss des Sonnenwindes hinwegtragen und auslöschen zu lassen, sich völlig hingebend und aufgebend: Mönch, Libelle und Gottesanbeterin in einer Form, stumm beschützt von einer Birke, die keinen Unterschied machte zwischen diesem Wesen und den Ameisen, die sie zur Nahrungssuche bekletterten.

Ein besonderes Stück wurde aufgeführt auf der Naturbühne unterhalb des Hügels. Peter und der Wolf waren getrennt gekommen und ruhten entfernt voneinander im Schatten der Bäume. Rotkäppchens Großmutter gab dem Wolf die erhofften Streicheleinheiten. Arielle, die Meerjungfrau, weinte Tränen als wolle sie die Wiese um einen Teich anreichern, während Hans im Glück summend über die Wiese tänzelte. Im Gras lag ein sterbender Schwan auf dem Rücken. Nicht weit von ihm stand ein Thron. Statt König und Königin, die heute frei hatten, saß darauf ein Junge, der auf den Bus wartete und in die untergehende Sonne schaute. Vor seinen Augen entkleidete sich eine sphärische Nymphe, die sich nähesuchend auf der Königin Platz setzte, sich splitterfasernackt der Sonne darbot, als wolle sie ihren Körper zum Sonnensegel machen. Eine vorbeihuschende Antilope zog die Aufmerksamkeit beider auf sich, als sie sich silhouettenhaft direkt in die Sonne stellte und wie ein scheues Reh neugierige und aufreizende Blicke zu dem ungleichen, thronenden Paar warf. In der magischen Sonne zerschmolz die Antilope zu einem löwenhaften Wesen, das sich katzensanft durch das Gras auf die nackte Nymphe zubewegte und diese mit ihrem Blick hypnotisierte. Völlig verloren in der Hypnose tänzelte die Nymphe vom Thron, um sich im tiefen Gras von der Löwin verschlingen zu lassen. Die Stimme der Pflegerin schallte über die Bühne: "Aber Barbara, so hatten wir das aber nicht ausgemacht. Du musst doch fragen vorher!" Ein wieherndes Lachen schallte unter dem Kirschbaum hervor, wo Arielles Pflegeeltern ihre Tränen mit einem Tempo vom Gesicht wischten und Hochzeitspläne für sie schmiedeten. Irgendwo wurde geküsst, anderswo geträumt. Pu der Braunbär übte mit den Grashalmen im Wind zu wiegen und die Physiklehrerin versuchte die Venus am aufscheinenden Sternenhimmel auszumachen. Tief in den spiegellosen Katakomben kämpfte ein angehender Greis mit seinen Gedärmen. Die Intendantin hatte weder Kosten noch Mühe gescheut und einen 3D-Maler das Wolkensextett aus "Cloud Atlas" auf die Bühnenleinwand bringen lassen. Der Guru rasierte sich den Kopf. Jemand pinkelte ins Lagerfeuer. Eine jede ging völlig in ihrer Rolle auf. Es war wahrlich ein besonderes Stück, das da aufgeführt wurde.

Ich saß am Rande der Bühne und trauerte um jene, die ich in diesem absurden Theater verloren hatte, über die Schmerzen die ich erlitten und jene, die ich zugefügt hatte. Der Barmann legte mir die Hand auf's Knie wie er sie sonst an den Zapfhahn legt und öffnete mein Ventil. Salzige Tränen rannen mein Gesicht hinunter und vermischten sich mit denen Arielles, mit denen der Nymphe und all den ungeweinten. So dankbar ich dem Barmann für seine Nähe war, so dankbar war ich meinen Weggefährtinnen und Gefährten für ihre Geschenke, die Erfahrungen die sie mir hinterließen, die Einsichten und Erkenntnisse, die ich nur dank ihnen gemacht hatte. Ein Strudel aus trauernder Dankbarkeit fraß sich durch mein Rückenmark und schmolz mich in das Fundament des Hauses, bis jene Szene begann, in der die Spieler das Lagerfeuer auspissten. Die Tiefe war an Absurdität kaum überbietbar.

An diesem Tag schlüpfte sie in viele Rollen. Sie war der Mönch und die Gottesanbeterin. Sie war die Nymphe und die Pflegerin. Sie war Pu der Bär, sie war Arielle, sie war ein zerbrechliches Mädchen von 11 bis 17 Jahren. Sie war der sterbende Schwan und die Birke. Sie war die Löwin, sie war das Gras, sie war die Sonne. Vor ihren Augen und in ihrem Kopf fand das Spiel statt, dessen Regeln sie war. Sie war die Leinwand und die Wolken. Die Bühne und die Kulissen. Sie war dabei, sich selbst und anderen zu begegnen. Sie alle gingen übers Händeschütteln hinaus, übers Umarmen, übers Entkleiden. Sie tauchten gegenseitig unter ihre Haut, eine jede ihren Kern suchend, ihre abgezogene Haut in den Wind hängend, ihr Innerstes darbietend und zeigend, verletzlich werdend bis zur Auslöschung. Sie zeigten sich von vielen Seiten, nicht von allen, denn es war nur ein Tag. Sie sahen sich in den Augen der anderen, hörten die Spiegelungen in den Stimmen der anderen, fühlten ihre Sehnsüchte in den anderen Herzen, die Trauer und Ängste, die Kräfte und Energien, die Leidenschaften und die Verspieltheiten. Für einen Tag tasteten sie sich vorwärts, ihre Kostüme abwerfend und die Masken transparent machend, gaben der Angst nach um sie klarer zu spüren als den Sonnenstrahl auf blanker Haut. Die Gruppe dissoziierte in ungelebte Rollen und machte sie lebendig. Als am Ende die verlorengeglaubten Teile wieder zueinander fanden und die alten Rollen wieder Form annahmen, blieb der Geruch von Freiheit in der Luft hängen. "Sei wie du bist. Irgendwann kommt's ja doch raus."


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