Amber Sadoor | Juli 2016
Quelle: www.dertrickser.de
es fühlte sich an wie ein verkehrsunfall. etwas großes hatte ihn getroffen. es kam aus einer richtung, die er nicht im blick hatte, vielleicht irgendwo schräg hinter ihm. und traf ihn unvorbereitet. es war, als habe ihn ein laster überfahren.
"so'n scheiß macht man einfach nicht!"
er schrie fast und er wußte, dass sie das hasste.
"einfach weglaufen. sind wir 16 oder was?"
sie schluckte. das kleine-schwester-syndrom klopfte an die pforte zum kleinhirn.
"du kannst mit deinem leben anstellen, was du willst! aber du kannst menschen nicht einfach so stehenlassen. wenn dir was nicht gefällt, musst du das maul aufmachen. weglaufen ist was für fünfjährige."
sie fragte zurück: "bist du fertig?"
er sah ihr in die augen: "ja."
das sommerloch war tief. wie jedes jahr. sie trudelte durch die stadt wie ein komet mit drall. menschen kamen ihr entgegen: viele menschen. schöne menschen und betrunkene, frauen und männer; jünger und älter. sie mochte es, von bühne zu bühne zu schlendern und sich an jeder neuen bühne in die spezifische stimmung einzufühlen. die menschen bewegten sich anders. sie waren schneller oder langsamer unterwegs. sie schienen verliebter oder agressiver, offener oder wütender. je nach musik. "music is the key" dachte sie noch, sah den vollmond am himmel stehen und fühlte nach ihrer eigenstimmung: diesem rhythmus, mit dem sie das niemandsland zwischen einer bühne und der nächsten durchschritt. das gefühl was diese orte hinterließen, an der keine musik die stimmung der hörenden vorgab. das, was sie selbst war, wenn sie den einfluss ihrer umwelt minimierte. sie entschied, es sei melancholie und schlug den weg nach hause ein.
er stolperte aus der menge vor der bühne. der sound hatte sich verändert und er passte nicht mehr zu seinem schwingungsbereich. gemächlich zog er sich zurück, suchte nach einem platz hinter der menschenmeute und wurde von einem jeansbejacktem jüngling mit einer verbeugung aus dem menschenwald gelotst. 5 meter und diverse gedankengänge weiter stand der typ schon wieder wieder neben ihm.
"komm, lass uns tanzen!"
wie gesagt: er war nicht in stimmung.
der betrunkene aufdringling wollte wissen: "wie heißt du?"
"namen sind doch schall und rauch."
eine hand wurde hinübergereicht: "ich bin philipp!"
"ich bin torben."
er nutzte die gelegenheit, dass philipp von einem seiner freunde abgelenkt wurde und verschwand wieder in der menge. er würde einen besseren ausgang aus dem schwarm finden.
als sie sich trafen war die umarmung inniger als jemals zuvor. sie wußten: seit ihrer letzten begegnung hatte sich etwas verändert. sie sprach von ihrem vater, der endlich gestorben sei. 25 jahre hatte sie gewartet und erst jetzt den mut gefunden, ihre stasi-akte zu beantragen. es gab sie, aber die archivare waren noch nicht fündig geworden. sie sprach von ihrer mutter, die sich das leben nahm, nachdem ihr vater sich eine neue ins haus geholt hatte. sie sprach vom gasherd, mit dem sie noch jahre später die küche geheizt hatte und von der alten nachbarin, die ihr vergangene woche ein geheimnis offenbarte: ihre mutter hatte sich nicht aufgehängt. sie hatte den gashahn aufgedreht. der halbe block war evakuiert worden. alle wußten bescheid. so viele alte bilder kamen plötzlich zueinander, puzzlesteinchen, die ein bild vom eigenen leben formten und den grund in erinnerung riefen, warum sie zeit ihres lebens beziehungen mit harten schnitten beendete, bevor sie richtig losgingen. da war er wieder: der laster, der aus einer dieser ecken kam, die niemand im blick hatte.
frei ist nur, wer nichts zu verlieren hat. seine tour hatte ihn in dieses kaff geführt. bereits eine stunde schon stand er am rand der eisenbahnbrücke, als die nachbarn aufmerksam wurden und in kleinen grüppchen näherkamen. er nahm den fuß aufs geländer und wieder runter. sie riefen, das bringe doch nichts. der letzte der gesprungen sei, hätte nur starke schmerzen gespürt und säße jetzt im rollstuhl. das war eine lüge, aber sie wollten nicht schon wieder diese traumata im dorf haben. als er den krankenwagen über die felder kommen saß, ließ er das geländer los, schlenderte zurück zum rad und fuhr in halsbrecherischer geschwindigkeit zurück ins tal, das er zuhause nannte. an diesem tag war es ihm egal gewesen, wenn ihm dabei ein laster begegnet wäre. was hatte er schon zu verlieren?
sie rief sich in erinnerung, wie weit sie schon gekommen war. welche berge sie überwunden, welche tiefen sie durchschritten hatte. welche wunder sie gesehen hatte. das leben ist kein ponyhof, das war ihr ja nichts neues. sie ließ die glaskugel über ihre haut laufen und versuchte jeden zentimeter bewusst wahrzunehmen, den sie zurücklegte: den sanften druck zu spüren, den das glas beim rollen auf den körper übertrug. sie genoss ihre fähigkeit, der kugel schwung und richtung zu geben und war stolz darauf, was sie in einem halben jahr lernen konnte. sie mochte den sound in den ohren, und die menschen, mit denen sie die wiese teilte. das leben konnte wunderbar sein. besonders im sommerloch. sie beschloss, sich ihre wut zu bewahren und sie in kraft zu verwandeln. sie war noch nicht fertig mit der welt. die welt: die würde sie noch kennenlernen!
sie teilten das gefühl, auf dem falschen planeten gelandet zu sein. nicht zu dieser spezies zu gehören. anders zu sein.
ihr therapeut hatte sie gefragt, ob sie wunderlich sei. seiner stellte lakonisch fest, dass die grenzen zwischen genie und wahnsinn fließend sind - und erzählte ihm von seinen eigenen depressionen. ihr sohn hatte im riesengebirge festgestellt, dass dort die bösen gedanken vertrieben werden, während seine tochter immer diesen blick aufsetzte, der sagte "nicht weinen, papa!", wenn er in den melancholiemodus wechselte. das leben war eine achterbahn, auf dem wunder und wahnsinn sich abwechselten. sie schauten sich tief in die augen, wechselten den "gib mir fünf"-blick und klatschen sich ab. er murmelte schief grinsend: "mal sehen, was die nächste kurve bringt..."