Amber Sadoor | Mai 2008
Quelle: www.dertrickser.de
zwischen jannowitzbrücke und ostbahnhof wurde ihm plötzlich übel. die häuserzeilen zogen an ihm vorbei, unterbrochen durch grüne inseln. der beton-moloch erschien ihm auf einmal grüner, als er ihn sich immer vorgestellt hatte. tags der spayer schmückten wände, dächer, autos und wagen anderer züge. 'aussätzige', dachte er. so wie ich.
drei tage zuvor hatte es ihn ausgeknockt. als hätte er etwas schlechtes gegessen durchfuhren seinen körper wallungen von übelkeit und orientierungslosigkeit. aber den anderen tagungsteilnehmern war nichts zugestoßen, dabei hatten sie alle dasselbe gegessen. vielleicht hatte er sich wirklich an einem der vorträge verschluckt?
das wort „mentalvergiftung“ steckte in seinem kopf fest. es fiel in einem der workshops, in dem neben ihm und dem vortragenden nur zwei weitere teilnehmer waren. jetzt übte es pingpong-spielen in seinem kopf. es hüpfte von einer synapse zur nächsten. wie ein aufgeregtes yrr, blitzschnell seine position wandelnd. es verband sich mit anderen worten zu einer gedankenflut, die ihn schwindlig machte.
jeder mit jedem über maximal sechs ecken. das milgram-phänomen. die welt – ein netz. alles in allem, alles mit allem. ein geschickt konstruierter virus allein könnte reichen, das kollektiv komplett zu verwandeln. vielleicht sogar, es zu vernichten. 'das erbe der judith li' – wieder so ein gedanke, den er darauf zurückführte, daß die mentalvergiftung wieder mit den yrr in verbindung getreten war. 'auch das hirn ist ein netz' dachte er weiter. der referent hatte es in einer liste von phänomenen aufgeführt, die alle netzwerkartig strukturiert waren. derzeit glaubte er, diese netzwerkstruktur seines denkorgans förmlich körperlich spüren zu können, als wären die herumspringenden gedanken kleine, rundherum mit spitzen bestückte stahlkugeln.
'welche form hatten gedanken?'
'nicht weil die dinge schwierig sind wagen wir sie nicht, sondern weil wir sie nicht wagen sind sie schwierig.' senecas wahre worte. die firma, die von der bahngesellschaft beauftragt worden war die im abteil hängenden bildschirme mit inhalten zu versorgen, hatte ihn als auflockernde weisheit zwischen zwei werbespots gepresst. woraufhin ein propamis-spot den zuschauer erinnerte, „du kannst dich frei entscheiden“.
frei?
unabhängigkeit ist eine illusion. selbst jene, die millionen und milliarden besaßen waren davon abhängig, daß der luftige inhalt ihrer kontostände von den drohnen akzeptiert wurde. wenn einer bedient wird, muss ein anderer bedienen und geld war das medium, was diesen prozess bislang steuerte. aber selbst diese erfindung der menschheit schaffte keine echte un-ab-häng-ig-keit. weiterhin hing einer mit dem anderen zusammen, nicht über physische verbindungen, wohl aber über das menschliche beziehungsgeflecht.
unabhängigkeit war eine illusion. und die idee von „freiheit“ hing untrennbar damit zusammen.
freiheit. freiheit wovon?
'freiheit von diesen gedanken', dachte er. aber wie sollte das gehen? seine innere welt schien immer aufgewühlter. wie sich an der oberfläche der ozeane kurz vor dem sturm blasen und wellen bilden, die keine richtung kennen, so ähnlich wogte es in seinem kopf. wovon? wo lag die antwort auf diese frage?
„die handlung des neuen bond-films ist streng geheim“ kommentierte der bildschirm mit einem bericht über dreharbeiten in berlin. inzwischen hatte der zug die grosse stadt verlassen. der beton war verschwunden, grüne farben dominierten die welt. erhaben standen bäume neben der strecke und ein globalisiertes topmodel fabulierte auf dem bildschirm über unsere bindung zur natur. wir seien teil von ihr, sie sei die grundlage unseres lebens. 'jetzt müssen schon models politik machen', dachte er und stand wankend auf, um die dringlichkeit der übelkeit mit einem besuch der toilette zu krönen. 'bloß nicht in den gang kotzen!'
die tür schloss sich automatisch hinter ihm, als er auf die knie fiel. er fühlte sich wie ein würgender hund. der mageninhalt schwang sich die perestaltik nach oben. ein machtvoller schwall plätscherte ins klo und warf tropfen zurück, als er ins wasser platschte. das war ihm egal. 'alles muß raus' blinkte auf einem las-vegas-schild in seinem kopf. einmal, zweimal, dreimal. der schriftzug wechselte. 'wer bin ich?' blink, blink, blink. 'was tu ich hier?' blink, blink, blink. plötzlich wurde ihm schwarz vor augen.
ich fand mich in einem garten wieder. die wiese, auf der ich stand, wurde kreisrund umflossen von einem bach, der sich oberhalb des hanges teilte und unterhalb wieder zusammenfand. das gefälle ließ ihn freudig sprudeln und spritzen, und von den umstehenden bäumen mischten die vögel ihr gezwitscher zwischen das gluggern des wassers. drei winzige holzbrückchen verbanden die insel mit der breiten obstbaumwiese, die den streifen bis zum dahinterliegenden wald formte. jedes war endpunkt eines trampelpfades, der aus dem wald kam oder sich in ihn hineinwand.
als plötzlich die wolken aufzogen und die sonne mich blendend wärmte, zog sich schlagartig der schleier vor meinen augen zurück und alles wurde mir klarer: diejenigen, die die symbole kontrollierten, kontrollierten die menschheit. unser kollektives signalsystem bestand aus uns selbst, jeder agierte darin als verstärker. ich formte mein umfeld und mein umfeld formte mich und seine umgebung. nichts war losgelöst, alles war eins, vernetzt und verschlungen, verwoben und verschränkt, flexibel verbunden, ein lebendiges gewebe. ich spürte eine zweite welt in mir lebendig werden. und langsam kehrte mein netzbewusstsein zurück.