Amber Sadoor | September/Oktober 2016
Quelle: www.dertrickser.de
"Sie haben wunderschöne Füße."
Aus der Richtung, aus der vor einiger Zeit der Laster kam, sprach nun eine frohgelaunte Frauenstimme zu ihm. Er drehte sich um und sah eine weißhaarige Frau um die 70, die wie er ihr Portemonnaie in Händen hielt und am Bäckertresen anstand. Sie lachte.
Er sagte: "Danke", wurde rot und lächelte, während er seine Frühstücksbrötchen bezahlte.
"Hat ihnen das schonmal jemand gesagt?"
Wie jeden Tag in diesem Sommer war er barfuß unterwegs. Seine Haut war randlos braun: von den Zehenspitzen bis übers Knie, wo die Hosen begannen. Wer sich die Füße ansah konnte sehen, dass sie oft vom Schuh befreit laufen durften. Gepflegt und frisch gewaschen strahlten sie Kraft aus und sahen aus, wie frisch aus dem Bett. Von wo er tatsächlich kam.
"Noch nicht beim Bäcker", antwortete er und lachte sie an.
Sie sagte:
"Ich hab sie vorhin laufen sehen und dachte: Ach, der junge Mann hat keine Angst. Nicht vor Splittern oder Hundehaufen."
Sie lachten gemeinsam über ihre Worte.
"Ich hab ja auch noch Augen", antwortete er augenzwinkernd, erfreut über das Kompliment und die Begegnung.
Sie verabschiedeten sich lachend und höflich voneinander, wünschten sich und der Bäckersfrau eine gute Zeit und dachten beide:
Was für ein schöner Start in den Tag.
Wir alle sehnten uns danach, verstrickt zu werden. Wir wünschten uns Nähe, wir strebten nach engen Bindungen. Aber wir verletzten uns tief, wenn eines unserer Gegenüber die Bindung, die uns so lieb und teuer geworden war oder an die wir uns gewöhnt hatten, kappen wollte. Es war, als waren wir verwachsen mit der Bindung und über die Bindung waren wir verwachsen mit unserem Bindungspartner. Viele empfindliche Nervenstränge waren in die Bindungen hineingewachsen und sie zu trennen war schmerzhaft. Sehr schmerzhaft. So blieben wir verwirrt zurück, nachdem wir gierig unsere ersten Bindungen eingegangen waren und uns Wunden zugefügt wurden, als man uns wieder trennte. Wir sehnten uns nach Verstrickungen und fürchteten sie zugleich. Wir fürchteten den Schmerz ihres Endes und aus Angst ließen viele von uns nur noch oberflächliche Bindung zu. Wie gebrannte Kinder wichen wir zurück, wenn die Verstrickungen uns zu heikel erschienen, aber es gab auch solche, die scheinbar lernunfähig sich von einer Beziehung in die nächste warfen und zwischendurch verkrüppelt durch die Netze schlichen. Menschen waren gefährliche Tiere.
Unsere Leben gehören nicht uns.
Von der Wiege bis zur Bahre sind wir mit anderen verbunden.
Er war wieder als Nomade in den Subkulturen der Stadt unterwegs. Man hätte meinen können, dass er sich dafür die Freundschaft der Türsteher verdienen mußte, um Zugang zu finden, doch es war viel leichter, wenn er auf den Pfaden anderer Nomaden wandelte. Sie kannten die Hintertüren und Schlupflöcher, die Quereinstiege und Schleichpfade in die verschiedensten Räume der Stadt. Eine seiner Freundinnen trieb sich bevorzugt in den S&M-Events dieser Jahre umher, ihn zog es stärker dahin, wo Wissen ausgetauscht wurde. "Lebe, als würdest du morgen sterben, lerne, als würdest du ewig leben" stand an seiner Tür. Wer das Codewort kannte, bekam Zugang zu seiner kleinen Kultur.
"Ich weiß jetzt, warum deine Tochter allergisch auf Katzen ist."
Gedankenverloren drehte er den Zahnstocher in der Hand.
"Sie versucht sich zu schützen. Vor dir. Du bist die beste Mutter, die sie kriegen kann. Fürsorglich, fütternd, Deckung gebend. Aber wenn du deine Krallen ausfährst und die dir nahestehenden wegbeißt, dann will man besser nicht in deiner Nähe sein. Daher hat sie gelernt, um katzenartige Wesen einen Bogen zu machen. Die Allergie hält sie von jenen Orten fern, an denen sie ihnen begegnen könnte. Nur, nur nicht zuhause."
Aus der Distanz sieht man die Dinge anders.
Der Bogen ist darum die bevorzugte Waffe der Amazonen.
Während der Pfeil zu einem sehr intensiven Kontakt mit der Beute aufbricht, bleibt die Jägerin in sicherer Entfernung. Wenn der erste Pfeil das Ziel verfehlt, kann eine gute Schützin einen zweiten hinterherschicken, dann einen dritten, vierten und so weiter. Wer ins Visier gerät, sollte besser flüchten als kämpfen, denn mit jedem Schritt auf die bogentragende Amazone zu, gibt man ein besseres, weil größeres Ziel ab.
Als Kind hatte ich dieses Bild im Kopf von einer unsichtbaren Leine, die meinen Bauch mit dem Pfosten des Fußballtores verband. Wenn ich den Ball hinter dem Tor holte, achtete ich darauf, auf der gleichen Seite des Tores wieder auf das Spielfeld zu laufen, über die ich gekommen war: um meine Leine nicht ums Tor zu wickeln. Wäre ich um das Tor drumherumgelaufen, hätte sich meine Leine schließlich drumherum gelegt. Nicht auszudenken, wie vielfach verbunden und verkettet ich nach einem ganzen Fußballspiel gewesen wäre, hätte ich darauf nicht geachtet!
Später begegneten mit diese "Leinen" wieder. Sie verbanden einen Menschen mit einem anderen und waren dabei dicker, wenn die beiden eine starke Bindung zueinander hatten und spinnwebendünn, wenn sie sich nur flüchtig kannten. Wir wußten inzwischen, dass ein lebendiges Netz aus Beziehungen diesen Planeten überzog. Jeder von uns war ein Knoten im Netz und zu jedem Menschen, den wir kannten, sponn sich ein solcher Beziehungsfaden. Es gab starke und schwache Bindungen, manche waren Liebesbeziehungen, manche flüchtige Bekanntschaften, manche Machtverbindungen, viele formten das aus, was wir "familiäre Bande" nannten. Robin Dunbar hat die These aufgestellt, dass jeder Mensch etwa 150 Bindungen gleichzeitig aufrecht halten kann, manche enger, manche ferner. Kontaktfreudige mehr, menschenscheue weniger. 150 ist die magische Dunbar-Zahl. Und da jeder Mensch, zu dem wir eine Beziehung pflegen, seinerseits Bindungen zu Menschen hat, die wir nicht kennen, und auch diese Freunde von Freunden weitere Verstrickungen pflegen, sind auf diesem Planeten alle miteinander verbunden. Erforscher dieses erdumspannenden Netzwerkes schätzen, dass man nur sechs bis sieben Zwischenschritte braucht, um sich durch dieses Bindungsgewebe von einem Menschen zu jedem beliebigen anderen Menschen auf dem Planeten zu hangeln. Von dir zu mir. Von mir zu Barack Obama. Oder Donald Trump. Vandana Shiva. Christiane Paul. "6 degrees of separation" nennt sich das Phänomen. small worlds. Ein Netz, das sich zwischen uns entspinnt. Materielose Bindungen zwischen menschlichen Wesen. Wenn es nicht so wissenschaftlich daherkäme, müßte man es als mythisches Mysterium bewundern: Jeder mit jedem über 6 Ecken. Tja: Die Welt ist ein Dorf.
Ja, sie hatte Angst. Angst, sich festzulegen. Angst, verletzt zu werden. Angst, etwas zu verpassen, von dem sie nicht recht wußte, was es war. Angst, den Schmerzen der Vergangenheit und früherer Leben wiederzubegegnen. Vertrauen ist ein dünnes Eis. Sie hatte sich ihr Equipment zurechtgelegt, Körper und Geist gestählt und saß unschlüssig am abgeräumten Frühstückstisch. Mut ist ein flüchtiges Gefühl und sie wußte nicht, ob sie heute endlich springen würde. Auch wenn sie nun entschlossen aufstand, um sich auf den Weg zu machen, spürte sie: bis zum Ziel würden Angst und Mut weiter miteinander kämpfen. Sie entschied sich für ermutigende Musik, wollte damit Partei ergreifen. Mut vs. Angst. Wer wohl am Ende als Sieger vom Spielplatz gehen würde?