Amber Sadoor | Januar 2021
Quelle: www.dertrickser.de
Wir alle sind tragische Figuren auf Gottes großer Bühne. Beladen mit unseren Träumen und verletzt durch unsere Nächsten schleppen wir uns durch die Katakomben des Daseins. Wir wissen um das Licht da draußen, denn hin und wieder kommen wir an einem Deckenspalt vorbei und es dringt zu uns durch und erwärmt unser Herz, doch wir wissen auch, dass es das letzte sein wird, das wir sehen, bevor wir diese Welt verlassen. So erfüllt Sehnsucht in gleichem Maße unser Herz wie Furcht. Und wir verstecken uns in den Nischen der Gänge und den Ecken der Räume - vor dem Licht, genauso wie vor unseresgleichen. Wir können nicht miteinander, genauso wie wir nicht ohne einander können. Wir fürchten einander, denn wir alle kennen die Schmerzen von Vertrauen und Vertrauensverlust. Gebrochene Herzen säumen unsere Wege.
"Ganz ehrlich, Mädchen: Wer mit dem Mantra des 'Schick ist Wichtig' durch's Leben geht, der muss natürlich viel Energie aufwenden, um die Fassaden hübsch zu halten. Viel Energie bleibt dann nicht, um das Innere aufzuräumen." Er sagte dies in einem so traurigen Ton, dass ihr sofort die Tränen in die Augen schossen. Sie erkannte sich in diesem Satz, der so weh tat, dass sie sich die Ohren zuhielt. Mit weinenden Augen und verstopftem Gehör konnte sie weder sehen noch hören, was er ihr anzubieten hatte, und sie war zu feige, um nachzufragen. Sie schalt sich dafür, vor ihm geweint zu haben. Es war ihr wichtig, die Fassade zu bewahren.
"Ich hab ein Faible für verlorene Seelen." Sie tippte diesen Satz in ihr Mobiltelefon. Er sollte als Begründung dienen, warum sie sich mit Männern dieser Art abgab. Sie hatte sich ein Gegenüber herbeigewischt und sollte sich erklären. Denn ihr Ex und ihr neuer Tinder-Kontakt kannten sich, hatten miteinander studiert, aber mochten sich nicht sonderlich. "Ich bin keine verlorene Seele", gab das Telefon die Tippergebnisse ihres Matches wider. Um zu ergänzen: "Naja, ein bisschen hat jeder was von einer verlorenen Seele. Ich hatte mich verloren und finde mich grade wieder."
In ihm klang dieser Satz nach: Die Taten, die wir am Lebensende am meisten bereuen sind jene, die wir nicht getan haben. Er war nie der Aufreißertyp, wußte gar nicht, wie man das macht, seine Liebschaften waren ihm immer aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis zugewachsen. Nie hatte er Frauen einfach so angesprochen. Aber es gab da diese unerledigte Sache, diese vertane Chance, dieses abgelehnte Angebot. Schon damals hatte er sich überwunden, es einfach so auszusprechen, gleich nach dem ersten Date. Er schrieb: "Vor ein paar Jahren hattest du meine Einladung zum Knutschen abgelehnt. Würdest du das heute wieder tun?"
Sie hatte ihren Kopf auf dem Schoß ihres besten Freundes und ließ sich das Haar streicheln. Die Berührung tat gut. Die Nähe ließ sie entspannen. Sie hatte sich ausgeheult über das frische Ende ihrer Beziehung. Und ließ sich nun mit der weinseeligen Weisheit trösten und herausfordern zugleich: "Beim Frühling, bei Männern und bei Zügen ist es doch ähnlich: Es kommt immer bald der nächste." Es tat gut, so auf die Zukunft zu schauen und es gab ihr Hoffnung. Doch der Schmerz darüber, das Alter zum Kinderkriegen ergebnislos und endgültig überschritten zu haben, ließ sich auch mit dem Ausblick auf neue Liebschaften nicht lindern.
Er konnte nicht anders als lügen. Es war ein innerer Zwang. Ein Automatismus, der schneller aktiviert wurde als sein Bewusstsein. Dieser Automatismus war in früher Kindheit in ihn eingeprägt worden, als er für erwünschte Ergebnisse überschwänglich gelobt, für unerwünschte Ergebnisse erbarmungslos fertiggemacht und für alles dazwischen ignoriert worden war. Es hatte in ihm eine Art Algorithmus abgelegt, der jene Worte produziert, die jedes Ergebnis gut aussehen ließ, unabhängig von den Tatsachen. So redet er alles schön: sich und seinem Umfeld. Irgendwann kam jedoch jeder seiner Bindungspartner in jene Phase der nach immer denselben Mustern ablaufenden Partnerschaften, in denen die Widersprüche unübersehbar waren. Die Lügen wurden sichtbar, das aufgebaute Vertrauen verschwand. Auf Rückfragen musste er neue Lügen produzieren, um die alten zu decken. Ein Gebäude aus Lügen entstand, während seine Partner auf zwei Arten reagierten: Die einen schimpften ihn einen Lügner und wandten sich ab, die anderen zweifelten am eigenen Verstand und wollten ihm in ihrer Fürsorge helfen. Sie konnten nicht glauben, dass es Menschen gab, die selbst aus nichtigsten Gründen der Wahrheit aus dem Weg gingen. Beiden Gruppen ging etwas verloren, insbesondere die Fähigkeit zu vertrauen. Und so vererbte sich die Verlorenheit einer Seele in die Seelen den anderen.
Wenn wir von vornherein zugeben würden, dass wir eigentlich chancenlos Sterbende sind, entstellt durch Wunden der Vergangenheit, nahezu hilflos in unseren Selbstrettungsversuchen und triefend vor romantisch-absurder Sehnsucht; wenn wir dies von vornherein zugeben würden, hätten wir vielleicht eine Chance. Wir könnten uns als Familie betrachten. Wir können uns an unsere Verwandtschaftsverhältnisse erinnern, an die biologischen genauso wie an die spirituellen. Wir könnten uns offen Rollen zuweisen, in denen wir miteinander Gottes große Bühne bespielen und uns für unsere Schwächen nicht geißeln und mit unseren Stärken füreinander da sein. Und uns aus dem Weg gehen, wenn wir uns mal nicht riechen, hören oder sehen können, ohne uns aus dem Leben zu gehen. Wir könnten einen Chor der Verlorenen Seelen formen, einen Gemeinschaftsgarten der Symbiose, eine Wandergruppe der Willigen. Wir würden Thees Uhlmann verlachen für seine Songzeile "Menschen wie ich bleiben besser allein". Vielleicht würden wir uns ein gemeinsames Wohnzimmer einrichten an einem Ort in den Katakomben, wo viele Deckenspalten viel Licht hineinlassen und würden uns in unserem Mut bestärken, den die Wärme des Lichts in uns auslöst. Dann hätten wir wohl eine Chance.