Amber Sadoor | Februar 2006
Quelle: www.dertrickser.de
"zeig mir den weg zur nächsten whisky-bar!"
nie zuvor war er in warschau. seine neugier hatte ihn in diesen club geführt; seine neugier für exotische milieus. neben der bühne saß ein mann. vor sich ein plattenspieler, auf dem kulissen in zinnsoldatengröße rotierten. als kulissen-jockey stellte er papierautos vor die angedeutete stadt. eine winzige kamera übertrug die makro-aufnahme des plattenspieler-szenarios an einen beamer, der es im großformat auf die bühnen-leinwand projezierte. immer, wenn eines der pappautos an der kamera vorbeirotierte waren die bässe eines typischen prollautos zu hören, wie es erst langsam näher kam, am beobachter vorbeifuhr und sich danach wieder entfernte:
bum, bum, bum, bum, BUM, BUM, BUM, bum, bum, bum, bum...
im schein des projektors stand sie vor der rotierenden stadtkulisse und rezitierte texte in einer agressiven stimmlage. der laptop war ihr transportables soundstudio, auf dem sie zum jeweiligen zeitpunkt die passende musik einspielte. mit einer adrenalingeschwängerten stimme beschrieb sie äußerst detailreich, wie ein polizist die tür eines sixpack von innen in das gesicht eines betrunkenen trat, worauf sich dessen gesicht zu einer blutigen masse verformte.
so lief der ganze abend ab: rotierende kulissen, agressive musik, schmerzvolle texte.
noch jahre später suchte er nach dem namen des duos. irgendwas mit "titten", soviel wußte er noch. doch seitdem war er nie mehr das gefühl losgeworden, die welt werde verrückt.
"we want the world and we want it.... NOW"
sie nahm die zigarette mit vor die haustür. ihre eltern mochten es nicht, wenn in der wohnung geraucht wurde. schon gar nicht sowas.
die synapsen klickerten, ihre gedanken schossen ins kraut. vögel waren gestorben. "vögelgrippe" – sie kicherte. seit den letzten kriegen, seit den wahlfälschungen, seit den gefälschten statistiken konnte sie nichts mehr ernst nehmen. die paranoia grassierte in allen schichten aber sie entschied sich für eine surreale sichtweise auf den irrsinn, das machte es erträglicher als den depressionen jener beizuwohnen, denen die angst ins gesicht gemeißelt war. selbstmörder-biologen wagten sich aus der deckung und bezweifelten die existenz des virus. nicht irgendeines virus, aller viren. heiliges affentheater! die glaubwürdigkeit der schulmedizin? ein kollateralschaden der überwachungsgesellschaft, die in reaktionärer manier die paranoia fütterte. ob es viren nun gab oder nicht gab, sie wußte nicht, was sie glauben sollte. sie hatte doch von all dem keine ahnung, sie war keine biologin. klar war nur, daß jeder irgendwann stirbt. irgendwie.
"die 3-kontakte-regel gilt noch immer" war der gedanke, der sie an ihr studium zurückdenken ließ. kommunikationsdesign. 3 kontakte, 6 netzwerkschritte und eine handvoll tkp-munition. der tag der abrechnung war nah. vögelgrippe. evolution. virales marketing.
eine massage wäre jetzt gut! so'ne yoga-massage. kurzzeitig blitzte die erinnerung an die süße neunzehnjährige aus diesem puff bei den tschechen in ihm auf. die arme in den nacken legend streckte er sich in seinem chefsessel. die systemzeit zeigte fünf uhr morgens, für ihn war es das ende eines arbeitstages.
stolz war er nicht auf sein nächtliches tageswerk, sondern nur darauf, wie er es getan hatte. er würde auch lieber anderes tun – aber hey, müssen wir nicht alle schauen, wie wir über die runden kommen? immerhin zahlte der auftraggeber gut und pünktlich. und wenn er seine texte dann über die ticker triggern sah und in den tagen darauf die nachrichtensprecherinnen teilweise wortwörtlich seine wohlabgewogenen formulierungen nutzten, da sagte er sich, daß er bei diesen aufträgen wenigstens merkte, daß seine arbeit nicht wirkungslos in irgendwelchen archiven verpuffte oder ungelesen und unbemerkt am nächsten tag unbedeutend geworden waren. solche jobs in denen man etwas tat, ohne daß sich etwas tat, gab es schließlich zuhauf.
er wußte, daß sie ihn beobachteten. solche auftraggeber überlassen nichts dem zufall. wer sich mit solchen leuten einläßt, muß eben mit deren regeln klarkommen. er hatte damit kein problem. für ihn war es ein job.
"kannst du dich erinnern wie du kämpfen mußtest, um diese sinnlose prüfung zu bestehen? kannst du dir vorstellen was alles möglich ist, würdest du so kämpfen für dein leben?"
sie hatte die nase so voll von den erwartungen der anderen, den falschen versprechungen, dem desinteresse, den adern voller gift und lange genug darüber nachgedacht. sie stieg auf die brüstung, breitete die arme aus und sprang.