Amber Sadoor | März 2019
Quelle: www.dertrickser.de
"nice to meet you". Er beendete das Gespräch auf amerikanische Art: Höflich, aber bestimmt. Sie saßen den Rest der 4stündigen Reise schweigend nebeneinander, jeder in sein Handy und seine Lektüre vertieft. Sie hätten ihre Zeit miteinander verbringen können, etwas über die Welt des anderen erfahren können, aber Nein. Vielleicht brauchten sie Abstand und Distanz zu ihresgleichen.
Wenn du die 40 überschritten hast, ist deine Persönlichkeit sehr stabil. Deine Ängste haben sich eingefurcht, die Sprungkraft deines Mutes ist zementiert entlang der postpubertären Erfahrungen. Die Form ist vollendet. Was du dich bis dahin getraut hast ist dir vertraut. Deine Grenzen zu überwinden wird nicht einfacher mit der Zeit. Zu gewinnen gäbe es viel: neue Orte, neue Räume, neue Menschen. Doch dein Risikomanagement ist nicht mehr das des 16jährigen, der noch überall hingegangen wäre, wenn ihm nur jemand eine Brücke gebaut oder eine Hand geboten hätte. Jetzt, mit 40, musst du die Dinge selbst in die Hand nehmen, nur selten wirst du Brückenbauer treffen, die dich auf Neuland führen, denn die Leute, die du kennst, sind jene, die du aus bekanntem Territorium mitgebracht hast. Neuland zu finden ist nur möglich, wenn du Barrieren überschreitest, die dir so alltäglich wurden, dass du sie gar nicht mehr als Grenzen wahrnimmst, sondern als Fundamente deines Seins. Wenn du die 40 überschritten hast, brauchst du besonderen Mut, überschwemmende Kreativität oder den unwiderstehlichen Drang, dein Leben neu zu starten.
Der Wetterumschwung begann derart heftig, dass ihm der Kopf platzen wollte und er das Gefühl hatte, seine Migräne wollte auch die letzten Zentimeter des Dickdarms aus ihm herauswringen. Blitze zuckten über den Hütten und Wasserfälle gingen auf den Felsen und trockenen Gründen des Umlandes hernieder. Erde wurde ausgespült und sprengte große Brocken aus den Felswänden, auf denen das Dorf stand. Der kleine Bach 50 Meter unter ihnen schwoll zu einem Fluss an und gurgelte seine Kraft in die Nacht. Die Wunden, die das Wasser gerissen hatte, zeigten sich tags darauf auf den steinigen Wegen, doch die mit dem Morgen wieder aufsteigende, heiße Sonne brannte seine bloßen Fußspuren so fest in den Schlamm, dass sie noch Wochen später zu sehen waren. "Leaving traces, I like that" sagte er zu ihr.
Sie waren gekommen, um die Gruppendynamik zu beobachten. Wo immer ein Mensch auf einen anderen trifft entsteht ein sozialer Tanz, ähnlich der fortwährenden Bewegung der Atome. Sie zogen sich an und stießen sich ab, sandten einander Signale, die sie gegenseitig beeinflussten. Während Atome der physikalischen Wechselwirkung nach göttlichem Plan folgten, folgte der menschliche Zusammenstoß eher guter Schauspielkunst wie Dante sie beschrieben hatte. Ob das soziale Schauspiel eher Hölle auf Erden oder himmlisches Paradies war hing von der Interaktionskunst der Protagonisten ab. Gruppen entwickeln eine eigene Dynamik, in der die Beobachterin leicht frisches Tanztheater sehen oder auch die Verbindung zwischen einem Hammer und seinem Amboß erkennen kann. Alles ist dabei. Und es ist besser als Fernsehen, denn wer Gruppen beobachten will kann dies nur als Teil von ihnen tun. Einzig Nähe und Distanz sind verhandelbar.
Er traf ihn auf dem weihnachtsgeschmückten Bahnhofsvorplatz im winterlichen Abenddunkel, als er rauchend auf den Anschlusszug wartete. Er hielt ein paar Münzen in der Hand und bat ihm um Geld. Für eine Fahrkarte nach Krakow. Oder etwas zu essen. Er sah durchgefroren aus, seine Augen waren glasig. Er sagte "Sorry" aber gab ihm nichts. Und während er sich seine Kopfhörer wieder ins Ohr steckte und sich auf dem Weg zu seinem Bahnsteig machte, meinte er im Augenwinkel zu sehen, wie der junge Mann die junge Frau ansprach, die des Weges kam. Keine 30 Meter weiter war der junge Mann wieder neben ihm. "Can you buy me some food?" Er dachte seine Sekunde nach und antwortete:
"Okay. What do you want?"
"Just anything to eat. Some Doener?"
"Okay. Show me where."
Während sie sich auf den Weg machten in eine dieser Bahnhofkaschemmen, in denen kaum Platz zum Drehen war außer für den Dönerspieß, erzählte der junge Pole, "My dad passed away yesterday. My mom called me." Und während sie auf seine Bestellung warteten erzählte er ihm eine dieser Geschichten, bei denen man nicht sicher sein konnte, was daran wahr war und was nicht. Sein Vater sei gestorben, und seine Tochter sei gestern geboren worden. Das heißt, er war nicht sicher, ob es seine Tochter ist, seine Freundin meinte, er sei nicht der Vater. "Too many men", war sein lakonischer Kommentar. Er knetete seine Hände, drehte nervös den Kopf hin und her, so dass er sein Tatoo am Hals sehen konnte. Er habe die ganze Nacht nicht geschlafen, weil er in der Nacht davor im Traum die ganze Zeit geweint hatte und dann kam die Nachricht, sein Vater sei gestorben.
"This is strange, isn't it?"
"Oh yes, this is really strange."
Seine unterlaufenen Augen blickend fragend in seine.
Er wusste, dass alles mit allem und wir alle miteinander verbunden waren. Doch es war nicht der Zeitpunkt, darüber zu sprechen.
Er wollte arbeiten, Geld für die Familie verdienen, das hatte er seiner Frau gesagt. Er war schon in Großbritannien und wolle nach Deutschland. Aber erstmal müsse er zur Beerdigung. Und Blumen kaufen. Also kam er zum Bahnhof, weil er hoffte dort das Geld für die Fahrt zusammenzukriegen. 100 Zloty koste die Fahrkarte nach Warschau: "Puh!"
"What are you doing?"
"I do decorator paintings."
"So you are a painter?"
Nicken.
"What's your name?"
"Adam."
"My name is Toma."
Sie gaben sich die Hand.
"How old was your father?"
"47." Ein ungläubiger, um Gnade flehender Blick Adams folgte, der jungenhafte Unschuld verriet.
"I try to be strong. I am strong in the head, you know?"
"Yes Adam, I can see this."
Er gab ihm einen Zwanziger und sagte er müsse gehen.
"I wish you luck!"
"I wish you luck too, Adam."
"Poland is the country of situations" hatte Jan einmal festgestellt.
Sie trafen sich in einem Schnellzug zwischen Mailand und Nizza. Sie wollte in Monaco aussteigen, um bei einem ihrer Freundkunden auf der Yacht zu feiern. Sie war kaum 20, trug eine knappe Bluse und die Initialen ihres Bruders, ihrer Mutter und ihres Vaters auf dem Oberarm, und ihre eigenen als Amulett an einer Kette um den Hals. Als er ihr die Hand zur Begrüßung reichte, ergriff sie sie in einer Mischung aus Unterwürfigkeit und sanfter Prinzessinnenart: sie schüttelte nicht seine Hand, sie berührte sie elfenhaft. Sie war sein Zugang zu zwei neuen Welten: Sein Italienisch war bruchstückhaft und die mediterrane Kultur ihm nahe, aber unbekannt. Und die High Society kannte er nur aus dem Fernsehen. Durch Elena erforschte er fortan ihr Denken und ihre Lebensweise, wie ein Biologe die der Pinguine. Sie nannte sie eine "great amazing dangerous world". Er nannte sie eine "jet set woman" und für eine gewisse Zeit balancierte er ihr jet-set-life mit solidem Selbstvertrauen aus, doch er wußte, dass er sie nur begrenzt beschützen konnte. Er fischte von Milliardärsyachten, kokste in flamboyanten Clubs, smalltalkte mit pomadengegelten JetSetKindern und knutschte mit Wesen wie ihr: orientierungslosen Begleitungen, die für billiges Geld zu haben waren. Wie die Pinguine blieb ihm auch diese Welt fremd und irgendwann verloren Elena und er sich einfach aus den Augen. Auf ewig in Erinnung blieben ihm nur ihre Modetipps: No socks'n'sandals, no short trousers over the knee, no business shirt with stripes.
Die Welt ist verrückt geworden. Irgendwann sind wir in dieses schräge Paralleluniversum abgebogen, das als konsequente Fortsetzung früherer Geschichte galt, aber doch seltsam verschroben war. Man las die News und konnte immer schwerer unterscheiden, was Fakt und was Fake war, weil so vieles so un-glaublich klang. Wir gewöhnten uns schnell an den neuen Irrsinn, hielten ihn für Realität, adaptierten den Wahn, akzeptierten den Spin, schluckten die Bilder, verinnerlichten neue Realitäten. Viele blieben auf ihrem alten Weltbild hängen wie auf einem Drogentrip, fühlten sich entrückt von dem, was als Wirklichkeit erschien und fielen vom Glauben ab. "So muss sich Chaos anfühlen" dachte ich in stillen Minuten der distanzierten Selbstbeobachtung. Chaos. Die Abwesenheit erkennbarer Ordnung. Die Lücke in der Struktur. Das schwarze Loch im unendlichen Mind.
Wenn das Leben eine Sinfonie wäre, wäre jetzt wohl der Beginn eines Intermezzos angezeigt. Leicht veränderter Rhythmus. Neue Melodie. Eher dezent gesetzte Töne, wie beim Besuch einer Krypta unter einer mediterranen Kirche. Eine Zwischenepisode, die in die großen Sätze davor und danach warm eingebettet war und die den roten Faden nie verlor, aber einen Umweg darstellte, bei dem es reiche Beute zu machen gab. Wie auf Reisen üblich.
So oft schon wollte ich in diesem Leben sterben.
Nun sollte es also endlich soweit sein.
Ich betrachtete den dunklen Fleck in meinem Gesicht wie ein fremdes Wesen von einem anderen Planeten. Ein Stück Biologie, Teil meiner selbst und Feind meines Körpers zugleich. Was meine Seele wohl anstellen wird, wenn der Körper sie aushaucht?
Ich hatte zwar nicht alle, aber doch die wichtigsten Verpflichtungen hinter mich gebracht. Die Kinder fast aus dem Haus, die Projekte übergeben, die Bindungen auf das Nötigste heruntergefahren, so dass keiner jammern musste. Irgendwie hatte der Krebs darauf gewartet. Oder vielleicht hatte ich immer auf ihn gewartet? Jetzt hieß es wieder warten, und zwar darauf, dass die Biologie ihr Werk tat. Ich hatte nicht vor, mich therapieren zu lassen, auch wenn meine Freunde meinten, dass es dann Selbstmord sei. Doch wie so oft in meinem Leben fühlte ich mich nur als Beobachter am Seitenrand des Spielfeldes, der zuschaute, wie das Leben sein Alter Ego auf dem Platz durch den Kakao zog. Nun also würde ich mir beim Sterben zusehen.
Ich rasierte mich fertig, verpackte das Gerät wieder im Badschrank und begutachtete meine Augen wie die eines Fremden, der von der anderen Seite sich selbst im Spiegel betrachtete und nicht hindurchzusehen vermochte. Menschen in die Augen zu schauen fand ich immer schwierig. Sie sendeten Signale mit, die mich verwirrten oder sie taten es nicht, und das verwirrte mich noch mehr. Wer würde sich an diese Augen erinnern, fragte ich mich, strich mir die Brauen zurecht und verließ das Bad, um mit einem Bier ins Bett zu gehen.